Wo die Nacht beginnt
betreten, Madame«, gestand Pierre und schaute nervös über die Schulter, als fürchtete er, dass Marthe jeden Moment auftauchen könnte. »Nur Marthe und Mademoiselle Louisa halten sich gelegentlich in der Rezeptur auf. Nicht einmal Madame de Clermont wagt sich in diesen Raum.«
Ysabeau hielt nichts von Marthes Kräuterheilkunde – das war mir bekannt. Marthe war keine Hexe, aber ihre Tränke reichten fast an Sarahs Zaubermittel heran. Ich tastete mit Blicken den Raum ab. In einer Küche konnte man mehr tun als nur kochen, und im 16. Jahrhundert gab es für mich mehr zu lernen als nur Haushaltsführung und Zaubern.
»Ich würde die Rezeptur gern benutzen, solange ich auf Sept-Tours bin.«
Alain sah mich scharf an. »Benutzen?«
Ich nickte. »Für meine alchemistischen Versuche. Bitte lasst zwei Fässer Wein herbringen – so alt wie möglich, aber nichts, was schon zu Essig vergoren ist. Und lasst mich ein paar Augenblicke alleine, damit ich mir ein Bild machen kann, was hier alles vorrätig ist.«
Diese unerwartete Wendung machte Pierre und Alain sichtlich nervös. Der Koch wog kurz meine Entschlossenheit gegen die Unentschlossenheit meiner Begleiter ab und schob die Männer dann in Richtung Küche.
Während Pierres Murren in der Ferne verhallte, konzentrierte ich mich auf meine Umgebung. Der Holztisch vor mir war mit unzähligen Kerben übersät, wo Hunderte Male Blätter von den Stielen abgetrennt worden waren. Ich fuhr mit dem Finger über eine Kerbe und hielt ihn mir dann an die Nase.
Rosmarin. Um die Erinnerung wachzuhalten.
» Erinnern Sie sich?« Ich hörte die Stimme von Peter Knox, dem Hexer aus meiner Zeit, der mich mit Erinnerungen an den Tod meiner Eltern gepeinigt hatte und Ashmole 782 in seine Hände bekommen wollte. Wieder einmal prallten Vergangenheit und Gegenwart aufeinander, und ich warf einen verstohlenen Blick in die Ecke hinter dem Kamin. Wie erwartet sah ich dort blaue und bernsteinfarbene Stränge aufzüngeln. Gleichzeitig spürte ich noch etwas, eine andere Kreatur in einem anderen Zeitalter. Meine nach Rosmarin duftenden Finger reckten sich, um sich mit ihr zu verbinden, aber es war zu spät. Wer es auch gewesen sein mochte, war schon wieder verschwunden, und die Ecke lag so staubig und leer da wie zuvor.
Erinnere dich.
Jetzt hallte Marthes Stimme durch meine Gedanken, zählte Kräuter auf und wies mich an, von jedem eine Prise zu nehmen und einen Tee daraus zu brauen. Er wirkte empfängnisverhütend, was ich allerdings nicht gewusst hatte, als ich das heiße Gebräu zum ersten Mal gekostet hatte. Die Zutaten gab es mit Sicherheit auch hier in Marthes Rezeptur.
Die schlichte Holzkiste stand im obersten Regalfach, sicher und außer Reichweite. Ich stellte mich auf die Zehen, hob den Arm und richtete mein Begehren auf die Kiste, so wie ich es auch mit einem Buch in der Bodleian Library getan hatte. Die Kiste rutschte gehorsam nach vorn, bis meine Finger die Ecken zu fassen bekamen. Ich schnappte sie mir und stellte sie vorsichtig auf den Tisch.
Unter dem aufgeklappten Deckel entdeckte ich zwölf gleich große Fächer, jedes mit einer anderen Substanz gefüllt. Petersilie. Ingwer. Mutterkraut. Rosmarin. Salbei. Wilde Möhrensamen. Beifuß. Polei-Minze. Engelwurz. Weinraute. Gänsefingerkraut. Wacholderwurzel. Mit dieser Menge konnte Marthe den Frauen des ganzen Dorfes helfen, keine ungewünschten Kinder zu bekommen. Stolz, dass ich mich an die verschiedenen Namen und Düfte erinnerte, berührte ich der Reihe nach jedes Kraut. Dann schlug mein Stolz in Scham um. Mehr wusste ich nämlich nicht – weder in welcher Mondphase man die Pflanzen sammeln sollte, noch wofür sie sich außerdem verwenden ließen. Sarah hätte all das gewusst. Genau wie jede Frau des 16. Jahrhunderts.
Ich schüttelte meine Scham ab. Immerhin wusste ich, was diese Kräuter bewirkten, wenn ich sie in heißes Wasser oder Wein tauchte. Ich klemmte mir die Kiste unter den Arm und folgte den anderen in die Küche. Alain erhob sich sofort.
»Seid Ihr hier fertig, Madame?«
»Ja, Alain. Mercés, Koch«, sagte ich.
In der Bibliothek stellte ich die Kiste sorgsam auf der Schreibtischecke ab und legte ein leeres Blatt Papier bereit. Dann setzte ich mich und zog einen Kiel aus dem Federhalter.
»Der Koch hat mir erklärt, dass am Samstag der Dezember beginnt. Ich wollte das in der Küche nicht ansprechen, aber kann mir jemand erklären, wo die zweite Novemberhälfte geblieben ist?« Ich tauchte den Federkiel in
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