Wo die Nacht beginnt
wärst überall lieber als hier. Das weiß ich, Matthew. Aber Hancock hatte recht: An einem Ort wie London oder Paris, wo wir womöglich eine Hexe finden könnten, die mir helfen will, würde ich nicht lange überleben. Andere Frauen würden sofort merken, dass ich anders bin, und sie wären nicht so tolerant wie Walter oder Henry. Man würde mich innerhalb weniger Tage vor den Richter – oder die Kongregation – zerren.«
Matthews scharfer Blick verdeutlichte seine Warnung, wie aufreibend es sein musste, ständig im Zentrum der Aufmerksamkeit eines Vampirs zu stehen. »Anderen Hexen bist du egal«, erklärte er eigensinnig. Er ließ meine Arme los und drehte sich weg. »Und mit der Kongregation werde ich schon fertig.«
Die wenigen Schritte, die Matthew und mich trennten, dehnten sich, bis wir an verschiedenen Enden der Welt hätten stehen können. Doch die Einsamkeit, meine langjährige Gefährtin, fühlte sich nicht mehr wie eine Freundin an.
»So kann das nicht weitergehen, Matthew. Ohne meine Familie und meinen Besitz bin ich vollkommen von dir abhängig«, fuhr ich fort. In manchen Dingen hatten die Historiker die Vergangenheit durchaus korrekt erfasst, zum Beispiel wenn sie von der strukturellen Schwäche eines Lebens als Frau ohne Freunde und Geld sprachen. »Wir müssen auf Sept-Tours bleiben, bis ich einen Raum betreten kann, ohne dass mich alle anstarren. Ich muss in der Lage sein, allein zurechtzukommen. Und das fängt hiermit an.« Ich hob den Schlüsselbund an.
»Du wirst also die züchtige Hausfrau spielen?«, fragte er zweifelnd.
»Ich werde gar nichts spielen. Ich werde sie sein.« Matthew verzog die Lippen, als ich das sagte, aber sein Lächeln wirkte gezwungen. »Geh schon. Geh zu deinem Vater. Ich habe zu viel zu tun, als dass ich dich vermissen könnte.«
Ohne einen Kuss oder ein Abschiedswort machte sich Matthew auf den Weg zum Stall. Dass er mir anders als sonst keinen Mut zusprach, verunsicherte mich doch. Nachdem sein Duft verflogen war, rief ich leise nach Alain, der verdächtig schnell erschien, gefolgt von Pierre. Offenbar hatten die beiden unseren ganzen Wortwechsel mitgehört.
»Du kannst deine Gedanken nicht verbergen, indem du aus dem Fenster starrst, Pierre. Du kannst nicht bluffen. Ich kenne diesen Blick von deinem Herrn, und ich weiß, dass er mir etwas verschweigt, wenn er so reagiert.«
»Bluffen?« Pierre sah mich verständnislos an. Kein Wunder, das Pokerspiel war noch nicht erfunden.
»Ich wollte damit sagen, du kannst mir nichts vormachen. Matthew wendet den Blick ab, wenn er sich Sorgen macht oder mir etwas verschweigen möchte. Und er fährt sich mit den Fingern durchs Haar, wenn er nicht weiß, was er tun soll.«
»Das tut er wahrhaftig, Madame.« Pierre sah mich ehrfürchtig an. »Weiß Milord, dass Ihr Eure Hexenkräfte einsetzt, um in seine Seele zu schauen? Madame de Clermont weiß um diese Angewohnheiten, und Milords Brüder und Vater ebenfalls. Aber Ihr kennt ihn erst so kurz und wisst doch so viel über ihn.«
Alain hustete dezent.
Pierre sah mich erschrocken an. »Ich vergesse mich, Madame. Bitte verzeiht mir.«
»Neugier ist ein Segen, Pierre. Und ich habe keine Hexerei, sondern nur meine Beobachtungsgabe eingesetzt, um meinen Mann zu durchschauen.« Es gab keinen Grund, den Samen für die wissenschaftliche Revolution schon jetzt und hier in der Auvergne auszubringen. »Aber ich glaube, es ist angenehmer, wenn wir alles Weitere in der Bibliothek besprechen.« Ich deutete in die Richtung, in der ich sie vermutete.
Der Raum, in dem die de Clermonts die meisten ihrer Bücher aufbewahrten, bot noch am ehesten das, was mir in einem Schloss des 16. Jahrhunderts so etwas wie einen Heimvorteil bot. Sobald mich der Duft von Papier, Leder und Stein umgab, fühlte ich mich weniger einsam. Diese Welt war mir vertraut.
»Wir haben viel Arbeit vor uns«, erklärte ich ruhig und drehte mich zu den wichtigsten Bediensteten der Familie um. »Erst möchte ich euch beide um ein Versprechen bitten.«
»Ein Gelübde, Madame?« Alain sah mich argwöhnisch an.
Ich nickte. »Falls ich etwas erbitten sollte, wofür wir die Hilfe Milords oder, wichtiger noch, seines Vaters benötigen, dann sagt mir das bitte, und wir werden uns etwas anderes überlegen. Die beiden sollen sich nicht mit solchen Kleinigkeiten befassen müssen.« Die Männer sahen mich misstrauisch, aber gespannt an.
» Òc«, nickte Alain.
Trotz dieses hoffnungsvollen Auftakts begann meine erste
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