Wo die toten Kinder leben (German Edition)
er schlucken musste.
„So. Fertig“, meinte ich. „Sie können sich wieder anziehen, …oder was auch immer.“
Ich ging hinaus ins Wohnzimmer und wartete, bis er sich zu mir gesellte. Er hatte sich ein frisches Hemd übergezogen, es jedoch nicht bis zum Kragen zugeknöpft. Ohne seine offizielle Tracht wirkte er verletzlich und anziehend zugleich.
„Danke“, sagte er und vermied es dabei, mich direkt anzusehen.
Ich machte eine vage Geste mit der Hand. „Das ist doch selbstverständlich.“
„Kann ich Ihnen etwas anbieten?“
Suchend blickte ich um. „Hier kann man sich ja nirgendwo setzen.“
„Wir können in die Küche“, schlug Wagner vor und führte mich in einen anderen Raum, in dem sich eine hochmoderne Einbauküche befand. In einer Nische stand ein Ecktisch mit zwei Stühlen.
„Wenn Sie Platz nehmen wollen?“ Wagner wies übertrieben förmlich zur Essecke. „Was kann ich Ihnen anbieten?“
„Was haben Sie denn?“
Wagner öffnete umständlich seinen Kühlschrank und begann aufzuzählen: „Mineralwasser, Milch und Tomatensaft...“
„Tomatensaft?“, wiederholte ich ungläubig.
Wagner verstand augenblicklich und lächelte. Das Lächeln erreichte seine Augen. „Irgendwo drüben habe ich noch einen Scotch.“
„Scotch klingt gut.“
Wagner sah auf. „Wollen Sie Wasser dazu?“
„Für mich kein Wasser“, antwortete ich.
Wagner verschwand im Wohnzimmer und kam bald darauf mit einer Flasche zurück, in der ein goldbrauner Inhalt glänzte. Das Etikett war schwarz mit silbernen geschwungenen Lettern. Die Flasche war zu zwei Dritteln voll.
„Das ist aber edler Stoff“, sagte ich.
„Man tut, was man kann“, antwortete er und lächelte wieder dieses neue warme Lächeln. Er holte zwei Kristallgläser aus einem Geschirrschrank, stellte sie auf den Tisch und goss jedem von uns etwas ein. Ich machte eine aufmunternde Bewegung mit meinem Zeigefinger und er schenkte mir und auch sich nochmals nach.
Wir hoben unsere Gläser, stießen ganz beiläufig an und ich probierte einen Schluck. Das warme Gefühl in meiner Kehle und in meinem Magen war unbeschreiblich, und ich sah, dass auch Wagner seinen Drink sehr genoss.
„Da haben wir beide heute nochmal Glück gehabt“, seufzte ich.
Wagner setzte seinen Whiskey ab, schob ihn mit beiden Händen so auf den Tisch, dass er direkt vor ihm stand, schien mit der Position des Glases noch nicht ganz zufrieden und verrückte es einige Zentimeter nach rechts. Ich wusste, er wollte mit diesen Albernheiten nur Zeit gewinnen.
Ich wartete, bis er mit seinem Ablenkungsmanöver fertig war. „Das waren keine Ministranten. Die hatten ganz fest vor, uns beide umzubringen.“
Wagner hatte jetzt die Finger auf dem Tisch gespreizt, seine Augen waren auf die Platte gerichtet. Er nickte, zuerst leicht, dann stärker. Er sah auf: „Was wollen Sie wissen?“
„Alles“, antwortete ich.
8
„ D ie letzten Jahre waren für die Kirche nicht gerade einfach.“ Wagner stockte. Ich erwiderte nichts und so räusperte er sich und fuhr fort: „Wir hatten große Probleme mit Priestern, die…“ er suchte nach den richtigen Worten.
„…die sich an Kindern vergriffen haben“, beendete ich seinen Satz für ihn.
Wagner wirkte erleichtert, dass ich ihm abgenommen hatte, den Begriff in den Mund zu nehmen.
„Das eigentliche Problem war und ist, dass die Untersuchung von außen kam, und wir nichts steuern konnten. Es wurden Dinge ans Tageslicht gezerrt, …“, wieder suchte er nach einer korrekten Formulierung und brach schließlich ab.
„Sie meinen, man hätte diesen Vorwürfen nicht nachgehen sollen?“
„Doch, doch“, beeilte sich Wagner zu antworten. „das sind ja Ungeheuerlichkeiten, die angezeigt und geahndet werden müssen! Aber…, es wäre für uns besser gewesen, wir hätten die Kraft aufgebracht, die Vorfälle selbst zu untersuchen und die Personen, die diese schrecklichen Verbrechen begangen haben… Wir hätten uns selbst darum kümmern sollen.“
„Das heißt im Klartext?“
„Wir sind eine große Organisation. Und wie jede Organisation, die eine bestimmte Größe überschreitet, sind wir anfällig dafür, dass sich schwarze Schafe einnisten. Da hilft die beste Vorauswahl nichts. Das ist unvermeidbar. Wir haben einzelne Personen in unseren Reihen, die den Deckmantel seelsorgerischer Tätigkeit ganz bewusst dazu nutzen, Verbrechen zu begehen. …Aber, ich bin sicher, wir hätten andere Möglichkeiten, bessere Möglichkeiten, mit diesen
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