Wo die toten Kinder leben (German Edition)
dort gewesen.
Ich kehrte in den Wohn- und Schlafraum zurück, setzte mich auf den Schreibtisch und beobachtete Wagner, der mit einem Stapel alter Zeitungen beschäftigt war. Er faltete sie auseinander und schüttelte sie aus. Er arbeitete erstaunlich gründlich.
„Und?“, fragte ich.
Wagner wirkte deprimiert. „Hier ist nichts - …oder es ist so gut verborgen, dass wir es einfach nicht finden können.“
„Wenn wir davon ausgehen, dass die anderen keinen Erfolg hatten und wir jetzt auch nicht, dann ist das, was wir suchen, vielleicht zu klein oder zu unbedeutend, als dass es uns auffällt.“
„Es muss an einer Stelle sein, an die man nicht denkt.“
„…Oder, genau dort, wo man es zunächst suchen würde – aber dann in einer Form, dass man es übersieht“, ergänzte ich.
Ich wandte mich dem Computerschrott zu, den ich vorhin achtlos beiseitegeschoben hatte. Nichts erregte meine Aufmerksamkeit. Ich nahm eine ausgeschlachtete Tastatur hoch. Darunter befand sich ein Kartenlesegerät, das zumindest von außen noch durchaus brauchbar aussah. Ich betrachtete es genauer, wobei ich es in meinen Händen drehte. Etwas klapperte auf den Boden. Die Speicherkarte einer Kamera lag vor mir. Ich hob sie auf und zeigte sie Wagner.
„Das wird es sein“, sagte er.
13
D er PC in Wagners Wohnung übertraf meinen mickrigen Laptop um Längen. Wagner besaß ein richtiges Markenprodukt. Hochauflösend und präzise zeigte sein Bildschirm alle Details. Details, bei denen sich mir der Magen umdrehte. Jungen in verschieden Posen – einmal nackt, einmal bekleidet. Und ein Mann, der ihnen Dinge antat, die ich lieber nicht gesehen hätte.
Wir hatten bereits rund hundert Bilder gesichtet – eines scheußlicher als das andere. Der Mann hatte sich so positioniert, dass man sein Gesicht nicht erkennen konnte. Andere Teile seines Körpers waren dafür stets überdeutlich auszumachen.
Irgendwann aber, hatte er seine Vorsicht vergessen. Ein Großteil seines Profils war abgelichtet - vor Vergnügen und Lust verzerrt, der Mund halb offen. Es handelte sich um einen Mann Mitte dreißig. Und dieser Mann war eindeutig nicht Bernhard.
Wagner bearbeitete das Bild und vergrößerte es. Dann druckten wir es aus.
Wagner ließ es auf den Computertisch fallen und fuhr den PC herunter. Er sprach kein Wort.
„Wenn das kein Motiv ist“, sagte ich.
Er blieb stumm. Er nickte nur, fasste sich mit beiden Händen an die Schläfen und drückte dagegen. „Wie kann man Kindern so etwas antun? Wie kann man solche Verbrechen begehen und sich dabei aufnehmen lassen?“
„Derartige Fotos haben einen immensen Wert in gewissen Internetkreisen“, entgegnete ich.
„Ja, natürlich“, sagte Wagner und er klang ernüchtert. „Das weiß ich, aber…“, Er schüttelte den Kopf.
„Wenn der Täter…“, ich tippte auf die Vergrößerung des Bildes vor uns, „wenn der Täter wusste, dass Bernhard die Fotos hatte, dann wollte er wahrscheinlich alles tun, um zu verhindern, dass wir oder jemand anders sie in die Hände bekommen.“
„Dann musste er aber von unserer Untersuchung wissen. Und nur ein kleiner interner Kreis unserer Diözese ist darin eingeweiht, dass wir den Suiziden nachgehen.“ Wagner verstummte, hob das Foto an und betrachtete es erneut.
„Das ist die logische Konsequenz“, sagte ich. „Der Mann auf dem Foto weiß von unserer Existenz. Er ist sich bewusst, dass wir ihm auf der Spur sind. Und er hat Angst davor, aufzufliegen.“
Wagner wirkte noch immer wie am Boden zerstört. „Wenn man diese Bilder sieht, muss man doch den Glauben an die Menschheit verlieren.“
„Das kann man“, stimmte ich ihm zu, „muss man aber nicht. Man kann sich auch sagen, dass es sich um einen kranken Verbrecher handelt.“
Wagner langte zu mir hinüber, legte seine Hand auf meine und drückte sie.
Ich stand auf. „Sehen wir uns morgen?“
Wagner wollte sich ebenfalls erheben.
„Bleiben Sie ruhig sitzen“, meinte ich. „Und übrigens, das mit dem Siezen finde ich langsam albern. Wir haben zusammen einen guten Scotch geleert, wir wären beinahe umgebracht worden und heute haben wir uns diese Perversitäten ansehen müssen. Ich glaube, wir können wirklich zum Du übergehen.“
Wagner blickte zu mir auf und zwang sich zu einem Lächeln. „Wenn du meinst.“
„Na, also!“, sagte ich.
Wieder machte Wagner Anstalten, sich zu erheben.
„Bleib sitzen. Ich finde schon alleine raus“, sagte ich und ging.
14
Z uhause
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