Wo die toten Kinder leben (German Edition)
Inzwischen standen neben dem Kaffee auch Rühreier und Toast auf dem Tisch. Paul saß dahinter und sah mich erwartungsvoll an.
„Kann ich hier rauchen?“, fragte er.
„Untersteh‘ dich!“
Die Eier sahen gut aus. Es war lange her, dass ich in Gesellschaft gegessen hatte. Wir frühstückten schweigend.
„Ok“, durchbrach ich die Stille. „Was ist los? Warum kommst du zu dieser gottlosen Stunde und erschrickst mich halb zu Tode?“
Paul griff sich eine der Papierservietten, die er allem Anschein nach mitgebracht hatte und tupfte sich die Lippen ab. Er nahm noch einen Schluck von seinem Kaffee, dann seufzte er und lehnte sich in seinem Sessel zurück. „Das Bild, das wir ausgedruckt haben. Das mit dem halben Kopf.“
„Was ist damit?“
„Cornelia und Bernhard stammten aus unserer Diözese. Und gestern Abend habe ich mit dem Prof, also mit Professor Satorius, telefoniert und ihm einige Bilder gemailt. Wir haben darüber nachgedacht… - Vielleicht handelt es sich bei dem Unbekannten auch um jemanden, der…“ Paul verstummte und ich führte seinen Gedankengang weiter: „…auch um ein Mitglied des Bistums, meinst du?“
Paul nickte. „Der Prof hat mir geraten, das Foto des Gesichts an die verschiedenen Sekretariate zu schicken.“
„Und?“
„Wenn ihn jemand kennt, werden wir das im Laufe des Tages wissen.“
„Was machen wir bis dahin?“
„Ich habe uns einen Termin bei Frau Dr. Hofmann verschafft.“
„Die Ärztin, die die Totenscheine für das junge Pärchen ausgestellt hat?“
„Ja. Sie erwartet uns gegen zehn Uhr.“
„…Lass mich raten: ich fahre.“
Pauls Lächeln wirkte ansteckend. „Zum Laufen ist es etwas zu weit.“
„Dann mach ich mich mal fertig“, sagte ich und stand auf.
Als ich den Raum schon fast verlassen hatte, drehte ich mich nochmals um. „Übrigens, das mit dem Frühstück war eine sehr nette Idee.“
Paul sah mich an. Sein Lächeln wurde wärmer. „Das war auch mein Gedanke. Ich weiß, wie schwer es ist, immer allein zu essen.“
Ich ging in mein Schlafzimmer und holte meine Wolljacke. Der Tag versprach, kühl zu werden.
16
F rau Dr. Hofmann wohnte außerhalb der Stadt in einem älteren, unauffällig grau gestrichenen Haus am Rande eines Waldgebiets.
Der Zaun, der das riesige Anwesen der Ärztin umgab, stach mir sofort ins Auge. Er war aus auffallend schönem Holz gearbeitet und kunterbunt gestrichen. Im Vorgarten waren mehrere Skulpturen effektvoll platziert - große ehemalige Baumstümpfe, fein gesäubert, von Rinde und Belag befreit und mit Schmirgelpapier geglättet. Die ihnen verbliebenen Äste erinnerten an Arme, die sich gen Himmel streckten. Daneben war ein Spielhaus für Kinder aufgebaut. Auch das Häuschen war bunt gestaltet und wirkte, als wäre es direkt dem Märchen Hänsel und Gretel entsprungen. Offensichtlich war hier jemand künstlerisch tätig.
Wir betraten die Praxis und kamen in etwas, was auf den ersten Blick wie ein Wohnzimmer aussah und sich bei näherer Betrachtung als Wartebereich entpuppte. Sessel standen dort, zu Gruppen arrangiert. Die Wände in zarten Pastelltönen gestrichen, dazu passende Bilder, ein Wasserspender – sogar eine prächtige, randvoll gefüllte Bonboniere aus schwerem Kristallglas fehlte nicht. Alles war so gehalten, dass sich die Patienten wohlfühlten.
Heute, am Samstag, lag das Wartezimmer verwaist vor uns.
Eine Frau in den Fünfzigern kam herein. Ihr schwarzes Haar sah natürlich aus, obwohl es gefärbt war. Ihre großen Augen leuchteten gefühlvoll.
„Ah, Herr Wagner! Schön, Sie zu sehen!“, begrüßte sie Paul und in ihrer Stimme schwang Herzlichkeit.
Paul ergriff ihre ausgestreckte Hand und schüttelte sie. „Frau Dr. Hofmann, darf ich Ihnen Frau Steinbach vorstellen? Wie ich Ihnen am Telefon bereits angekündigt habe, hat sie einige Fragen an Sie.“
Die Ärztin wandte sich mir zu. Sie strahlte eine außergewöhnliche Energie aus, was ich erst jetzt bemerkte, als sie ihre Aufmerksamkeit auf mich richtete. „Frau Steinbach? Wie kann ich Ihnen helfen?“
„Professor Satorius meinte, Sie hätten damals die Selbstmorde der zwei Jugendlichen untersucht?“
„Ich habe die Totenscheine ausgestellt. Aber das ist einige Jahre her. Damals war ich neben meiner Praxis auch als Amtsärztin tätig.“
„Können Sie sich noch an Details erinnern?“
„Ich habe dem Professor bereits alles gesagt, was ich weiß. Es handelte sich um ein Pärchen im Teenager-Alter. Sie sind ertrunken. Das
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