Wo die toten Kinder leben (German Edition)
angekommen, stellte ich fest, dass das Lämpchen meines Anrufbeantworters pulste. Ich hörte ihn ab. Eine Stimme forderte mich auf, zurückzurufen. Lange saß ich vor dem Telefon und konnte mich nicht entscheiden, was ich tun sollte. Dann wählte ich doch die Nummer.
„Hallo Mama“, sagte ein Kind am anderen Ende.
„Hallo Julia“, antwortete ich und sah sie im Geiste vor mir stehen, mit ihrem blonden langen Haar, das ihr bis fast zur Taille reichte und ihrem Pony, unter dem zwei grüne Augen frech hervorblitzten.
„Schön, dass du dich meldest, Mama!“
„Sicher doch. Ich wollte ohnehin schon längst anrufen“, antwortete ich ihr, um dann anzuhängen: „Und wie geht’s?“ – ich wusste nicht, was ich sonst hätte sagen sollen.
„Gut, Mama. Es ist nur so… manchmal, …ganz manchmal…, vermisse ich dich.“
Ich erwiderte nichts. Ich konnte kein Wort herausbringen.
„Abends“, fuhr sie fort, „erzählt Papa immer eine Geschichte. Früher bist normalerweise du gekommen. Deine Geschichten waren viel besser.“
„Was macht Papa?“, fragte ich.
„Ach, der muss viel arbeiten.“
„Und wie geht’s in der Schule?“
„Macht schon Spaß – obwohl, es wäre mal wieder Zeit für Ferien. Schule strengt an.“
Wir unterhielten uns eine ganze Zeitlang. Sie erzählte von einer Freundin, bei der sie am Wochenende über Nacht geblieben war und von einem Kindergeburtstag. Es klang fast so, als würde eine normale Mutter mit ihrem Kind sprechen. Nur, dass ich mein Kind nicht sehen durfte.
Ich gab ihr das Versprechen, bald wieder anzurufen, in dem Wissen, dass ich log, und verabschiedete mich von ihr.
Allein saß ich auf meinem Stuhl, blickte zum Telefon und verschränkte meine Arme. Ich drückte sie fest an mich, bis ich fürchtete, keine Luft mehr zu bekommen.
Ich wollte keine Medikamente mehr.
Ich würde es auch ohne sie schaffen.
…Und dann, irgendwann könnte ich meine Tochter besuchen und vielleicht sogar einen ganzen Nachmittag mit ihr verbringen.
Irgendwann.
Das zumindest war ein schöner Gedanke.
15
D urchgeschwitzt vom Joggen kletterte ich am nächsten Morgen die Treppen zu meiner Wohnung empor. Anfangs nahm ich noch mehrere Stufen auf einmal, doch ab dem zweiten Stock fiel es mir merklich schwerer. Schließlich gelangte ich in die vierte Etage vor meine Tür.
Schwer atmend suchte ich nach dem Schlüssel in der Jacke, als ich es sah. Die Tür war nicht verschlossen. Sie stand einen Spaltbreit offen.
Obwohl ich gerade noch erhitzt gewesen war, durchströmte mich schlagartig eine Eiseskälte. Ich schob die Goretex-Jacke am Rücken hoch, fand den Gummigriff meiner Automatik und zog sie heraus. Ich hielt sie schräg nach oben, damit die Betätigung des Sicherungshebels kein Geräusch machte. Gespannt war die Waffe ohnehin.
Ich fasste die Automatik mit beiden Händen, legte vorsichtig eine Fußspitze in den Türspalt, ließ die Tür nach innen schwingen und sprang in den Raum.
Die Mündung der Waffe deutete auf die Brust von Paul, der gerade aus meiner Küche kam. Er balancierte ein Tablett, auf dem zwei Tassen und einige Teller standen.
„Hallo“, begrüßte er mich freudig.
Ich atmete hörbar aus, zögerte aber, die Mündung von seiner Brust zu nehmen.
„Erschießt du alle, die es wagen, dir ein Frühstück zu machen?“, fragte er grinsend.
„Ich erschieße nur die, die unerlaubt in meine Wohnung kommen.“
„Nun, so ganz unerlaubt bin ich ja nicht hier“, meinte Paul.
„Wieso? Habe ich irgendetwas nicht mitbekommen? Habe ich dir einen Schlüssel überlassen?“
„Du nicht, aber dein Hausmeister.“
„Ach ja?“
„Ich habe ihm gesagt, ich wäre dein Arbeitskollege – und das bin ich ja schließlich auch – obwohl ihn das nach seinem Gesichtsausdruck zu urteilen, etwas überrascht hat. Und außerdem…, als Priester hat man gewisse Vorteile.“
„Viele nehmen an, dass Priester immer die Wahrheit sagen“, stichelte ich.
„So ist es“, pflichtete mir Paul bei. „Und jetzt steh‘ hier nicht so ‘rum. Das Essen ist in wenigen Minuten fertig. Du kannst dich inzwischen zurechtmachen.“
Ich bewegte den Lauf meiner Automatik von ihm weg, sicherte die Waffe und verstaute sie an ihren Platz auf meinem Rücken. Paul ging ohne jede Hast zum Couchtisch und begann, aufzudecken. Ich wusste nicht, was ich wegen dieser Impertinenz sagen sollte, also begab ich mich lieber ins Bad.
Es dauerte nicht lange, bis ich geduscht und frisch angezogen zurückkam.
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