Wo die toten Kinder leben (German Edition)
sehen.
Paul und ich waren bei unseren Ermittlungen nicht weitergekommen. Nach wie vor hatten wir keine Anhaltspunkte, warum Cornelia, Bernhard und jetzt auch Vivian nicht mehr hatten leben wollen.
Morgen würden wir Vivian befragen. Sie stellte die letzte konkrete Spur dar, die wir hatten.
40
D raußen senkte sich die Nacht herab. Regen hatte eingesetzt. Das Feuer im Kamin flackerte unruhig, wenn ein Windstoß die Luft nach unten in den Schornstein drückte.
Wir saßen in der Bibliothek, hatten unsere Sessel um die Feuerstelle gerückt und tranken Kaffee. Lorenzo hatte dazu eine Art italienische Muffins gebacken, die auf der Zunge zergingen. Wir führten Smalltalk, in dem vergeblichen Versuch, uns zu entspannen.
Das Telefon schellte.
Zunächst nahm Lorenzo das Gespräch entgegen, dann reichte er den Hörer an Paul weiter. Paul stand auf und stellte sich einige Schritte abseits. Ich konnte ihn beobachten, wie er angestrengt den Worten lauschte und ich hatte den Eindruck, dass ihn das, was ihm sein Gesprächspartner sagte, aufregte. Paul drückte das Telefonat mit dem Daumen weg und wandte sich uns zu, wobei er den Hörer in seiner Hand behielt.
Niemand wagte es, ihm eine Frage zu stellen.
„Das war Frau Kern“, sagte er schließlich.
„Stimmt was nicht mit Vivian?“, fragte ich alarmiert.
„Nein, ihr Zustand ist stabil. Aber… sie haben die Ergebnisse des Bluttests bekommen.“
„Und?“
„Sie stand unter Drogen. Sie hatte und hat immer noch eine hohe Dosis von Scopolamin im Blut.“
„Scopo – was?“
„Scopolamin. Frau Kern meinte, die Ärzte hätten ihr erklärt, das sei eine Grundsubstanz von K.O.-Tropfen.“
Ich runzelte die Stirn. „K.O.-Tropfen? Wie soll sie denn da rangekommen sein?“
„Die Ärzte wissen es nicht. Ebenso wenig Vivians Eltern. Und Vivian selbst schweigt beharrlich.“
„Man muss doch aber feststellen können, wo das Gift herkommt“, mischte sich Lorenzo ein.
„Ich glaube nicht, dass man das zurückverfolgen kann“, sagte Satorius. Er fuhr mit seinem Rollstuhl zu dem Sekretär, auf dem sein Laptop stand.
„Scopolamin ist eine extrem gefährliche Substanz. Sie wird in ganz geringer Dosierung unter ärztlicher Aufsicht in der Medizin eingesetzt.“ Satorius fuhr den Laptop hoch und klapperte auf der Tastatur herum. „Wenn man zu große Mengen davon erwischt, ist Scopolamin tödlich. Ansonsten wird derjenige, der es unkontrolliert einnimmt, regelrecht apathisch und willenlos. Er ist Suggestionen gegenüber absolut offen. In den fünfziger Jahren wurde das Zeug als Wahrheitsdroge verwendet.“ Auf seinem Laptop erschienen einige Bilder. Seltsame Gewächse und altertümliche Schrift.
„Die Droge kommt auch in heimischen Pflanzen vor. Zum Beispiel im Bilsenkraut“, fuhr Satorius fort. „Früher haben es Heiler und Hexen benutzt.“
„Was haben die damit gemacht?“, wollte Paul wissen.
Satorius klickte eine andere Seite an. „Die Flugsalben der Hexen beinhalteten hauptsächlich diesen Stoff.“
„Flugsalben“, wiederholte ich.
„Nun, nicht im eigentlichen Sinne des Wortes. Fliegen konnten die Frauen damit natürlich nicht, aber sie hatten zumindest den starken subjektiven Eindruck. …Und wie gesagt, wenn man etwas zu viel davon erwischt, bringt es einen um.“
Bei seinen letzten Worten war ich aufgestanden und hinter ihn getreten, um den Bildschirm besser sehen zu können.
Satorius öffnete eine neue Seite. „Es ist doch seltsam“, meinte er, „dass so schöne Pflanzen derartig gefährliche Wirkstoffe enthalten.“
„Was ist das?“, fragte ich und deutete auf eine Blüte, die aus einem großen nach unten hängenden Kelch bestand.
„Die Engelstrompete“, antwortete Satorius. „Sie ist durchaus häufig in unseren Gärten anzutreffen. Wir hatten auch einmal eine im Vorgarten stehen. Allerdings muss man sie im Herbst zurückschneiden, ausgraben und im Dunkeln überwintern lassen. Sie war wirklich eine üppige Schönheit. Aber in einem Jahr kam der Frost unerwartet und …nun ja, sie hat es nicht überlebt.“
„Diese Blüten sind wirklich so gefährlich?“
„Nicht nur die Blüten, auch die Blätter und Wurzeln. … Genauso verhält es sich mit dem Bilsenkraut, oder…“ er rief eine neue Seite auf, „oder bei dieser Pflanze hier, der Tollkirsche.“
„Was für ein treffender Name“, sagte ich und beugte mich noch weiter vor, um das eher unscheinbare Gewächs mit den kleinen schwarzen Früchten näher zu betrachten.
„Ja. Sieht aus wie eine Kirsche, nur
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