Wo die Toten ruhen - Psychothriller
Sie hatte ihre eigenen Gründe, Leigh zu suchen, die nichts mit dir oder mir zu tun hatten. Ich bin sehr froh, dass sie mir geholfen hat, sie zu finden.«
»Das läuft auf dasselbe hinaus. Leigh steht da draußen auf meiner Schwelle. Und auch ihre Freundin. Sie warten da draußen. Na und? Wenn schon. Was hat das alles mit mir zu tun?«
»Du hast Leigh schwer verletzt, Mom, du bist mit einem Meißel auf sie losgegangen, um Himmels willen! Du … hättest sie fast …«
»Ich habe mein Bestes getan.« Esmé lachte trocken. Sie war wieder zurück in die Dunkelheit gewichen. »Ich hatte gehofft, dass sie stirbt. Aber so viel Glück hatte ich nicht. Ich hatte niemals Glück.«
»Du hast getrunken. Ich kann es riechen.«
»So betrunken bin ich nicht. Nicht so betrunken, dass ich nicht erkenne, dass du in mein Haus eingebrochen bist. Genau wie sie.«
»Wir werden herausfinden, wie wir dir helfen können, Mom.« Die Dunkelheit war erdrückend. »Warum machst du kein Licht?«
»Von allein hättest du dich nicht auf die Suche nach ihr gemacht. Du hättest sie ziehen lassen, weil ich dir beigebracht habe, wie man Dinge und Menschen loslässt. Wie man weiterzieht und sich an neue Umstände gewöhnt. Es hat ziemlich viel Mut erfordert, so zu leben wie wir.«
»Sie ist meine Frau. Das ist etwas anderes. Ich wollte sie nicht loslassen.«
»Ich war dein Fels in der Brandung. Wir beide waren eine gute Familie. Wir brauchten sonst niemanden.«
Im schwachen Schein der Taschenlampe erkannte Ray einige lose Ziegel. Er tastete sich zu der Stelle hin und griff in groben Mörtel, der sofort abbröckelte. »Ich habe dir immer schon gesagt, dass das unsachgemäß gebaut ist.«
»Finger weg von meiner Wand, Ray«, sagte sie. »Das ist mein Haus. Mein Leben.«
»Die Ziegel hier sind ein echtes Problem. Das muss sofort repariert werden«, sagte er. Er wusste, dass er damit vom Thema ablenkte, doch er konnte nicht anders. In der Rolle des Fachmanns fühlte er sich einigermaßen sicher.
Seine Mutter lachte wieder. Er hielt die Taschenlampe nun direkt auf ihr Gesicht und sah ihren zu einem grotesken Lächeln verzerrten Mund. In ihrer Hand blitzte etwas auf. »Was hast du da?«
»Oh, also«, sagte sie, »ich schätze, die Zeit ist gekommen.«
»Wovon redest du?«
»Du hast alle Schlüssel, die du brauchst«, sagte Esmé.
»Wo ist das verdammte Licht?«, schrie Ray. »Was ist das?« Ein Ziegel löste sich aus der Mauer, dann ein zweiter. »Da ist ja eine Öffnung.« Er griff hinein.
»Du hast nicht das Recht, hier einzudringen und in meiner Vergangenheit herumzuwühlen.«
Ray richtete die Taschenlampe wieder auf seine Mutter und
erkannte ein großes Messer in ihrer Hand. Eines der scharfen Messer.
In jener Nacht hatte Ray in dem kleinen Zimmer im hinteren Teil des Hauses geschlafen. Er war zwölf Jahre alt. Esmé hatte das Zimmer in Blau- und Grüntönen gestrichen und mit Sportutensilien dekoriert, denn in dem Alter interessierte er sich für Major-League-Vereine. Samstags und sonntags schaute er sich ihre Spiele an, genau wie Henry vor vielen Jahren. Sie waren offenbar genetisch programmiert, Gefallen daran zu finden, wenn Männer Bälle schlugen, herumliefen und umgeworfen wurden.
Esmé war ein wenig länger aufgeblieben, um ihre Lieblings-Sitcom zu schauen; sie genoss die Zeit für sich.
Sie hatte sich einen Tee gekocht, es sich auf dem Sofa gemütlich gemacht und sah fern. Gespannt verfolgte sie das Geschehen am Bildschirm und fieberte mit den ihr bekannten Figuren mit bis zum Happyend. Dann schaltete sie den Fernseher aus, richtete sich auf und trug ihre Tasse in die Küche. Sie hasste es, wenn morgens noch schmutziges Geschirr herumstand, es sollte alles weggeräumt sein.
In dem Augenblick, als sie die Spülmaschine einräumen wollte, hörte sie es: Eine Autotür wurde geschlossen, nicht zugeschlagen, sondern sorgsam und ganz leise geschlossen.
Alarmiert schlich sie auf Zehenspitzen zur Haustür und spähte durchs Fenster daneben.
Er.
Sofort war die vertraute Angst wieder da. Sie hörte ihr Blut in den Adern rauschen. Sie legte ihre Hand aufs Herz und spürte das heftige Klopfen. Fast ein Jahr hatten sie nun in diesem Haus in der Close Street gewohnt, ohne von ihm behelligt worden zu sein. Ich mag Whittier, dachte sie und drückte sich an
die Wand. Ich will nicht noch einmal umziehen. Ich will diese Stadt nicht verlassen. Ich habe es satt, dass er sich immer wieder in mein Leben einmischt! Gründlich satt!
Sie
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