Wo die Toten ruhen - Psychothriller
spürte mehr, als dass sie es sah, wie er sich von der Stra ße her dem Haus näherte.
Klopfen.
Er klopfte immer. Ein letzter Rest Höflichkeit war ihm erhalten geblieben, obwohl er sie inzwischen unglaublich hassen musste.
Sie schlich in die Küche und öffnete die Schublade, in der sie ihre Messer aufbewahrte.
Ein Anflug von schlechtem Gewissen überkam sie, doch sie schob ihn beiseite. Sie hatte ihre Entscheidung vor Monaten schon getroffen. Sie würde sich diesem Gefühlsterror nicht mehr ausliefern.
Sie würde nicht mehr weglaufen.
Ray hatte ein normales Leben verdient. Er schien glücklich zu sein dieses Jahr, und sie wollte, dass er in diesem Haus in dieser Straße wohnen bleiben konnte, wo er glücklich war. Er hatte Freunde in der Grundschule hier. Sie stellte sich ihn in der Hillview Middle School vor und in einigen Jahren zusammen mit seinen Freunden an der Cal Tech.
Sie sah durchs Fenster. Niemand vor der Tür. Henry suchte sich offenbar einen Weg ins Haus.
Sie achtete stets darauf, dass sämtliche Fenster im Haus ordentlich verschlossen waren, und hatte Ray vor langer Zeit beigebracht, es ebenso zu tun. Leicht war es für Henry nicht, einzudringen. Wenn eine Scheibe zu Bruch ging, würde sie das hören.
Sie lauschte, hörte aber nichts.
Das Haus wurde im Winter dunkel, nass und feucht. Vor vielen Jahren waren Kellerfenster womöglich sinnvoll. Vielleicht
hatten die Besitzer geplant, ein Billard- oder ein Spielzimmer dort einzurichten. Was auch immer sie vorgehabt hatten, bereitete ihr jetzt Probleme. Sie bewahrte Marmeladen dort unten auf und Essiggurken. Das tat sie immer, wenn sie irgendwo lange genug blieben, dass das Einkochen sich lohnte. Das letzte Mal im Keller war ihr aufgefallen, wie muffig es dort war, und sie hatte das kleine Fenster auf Kippe gestellt. Dieser Kellerraum erinnerte sie unangenehm an die Bright Street.
Sie hatte das Fenster nicht wieder geschlossen. Das war ein großer Fehler gewesen, erkannte sie nun.
Sie ging leise zum hinteren Ende der Küche Richtung Kellertreppe und versuchte sich zu erinnern, wie groß Henry war. Würde er sich durch das kleine Fenster quetschen können?
Mäuse - so hatte sie gehört - konnten sich durch Öffnungen zwängen, die nur eineinhalb Zentimeter Durchmesser hatten.
Ratten benötigten vielleicht zweieinhalb Zentimeter.
Und ein ausgewachsener, wütender Mann? Wie viel Platz brauchte der? Wie gut in Form und wie schlank war er zur Zeit? Sie erinnerte sich daran, dass er regelmäßig trainierte, um sich fit zu halten.
Ohne Licht zu machen, ging sie in den Keller hinunter. Sie fand sich hier blind zurecht.
Sie wartete, bis ihre Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten.
Dann sah sie, wie sich erst ein Fuß und dann der zweite durchs Fenster schob.
Ja. Offenbar war er soweit in Form, dass er sich tatsächlich hindurchzwängen konnte.
Sie lauerte ihm auf wie eine Meuchelmörderin, steigerte sich immer mehr in diese Rolle hinein und wollte es nur noch hinter sich bringen. Henry hatte so viele Jahre ihr Leben beherrscht.
Sie ertrug es keine Minute länger. Sie konnte einfach nicht mehr.
Nach und nach schob er sich durchs Fenster und landete schließlich auf dem langen rustikalen Tisch neben dem Wäschetrockner.
Dann sah er sie.
»Oh, Esmé!«.
»Ja.« Sie registrierte, dass nur ein schwacher Lichtschein aus dem Flur in den Keller fiel. Er konnte sie wahrscheinlich nur schemenhaft erkennen.
Einen kurzen Moment verspürte sie brennende Sehnsucht nach ihm. Doch dann fragte er: »Wo ist er?«, und auf der Stelle war sie sich sicher, die richtige Entscheidung getroffen zu haben.
»Er schläft oben.«
»Ich nehme ihn mit. Geh mir aus dem Weg, Esmé.«
Und in diesem Augenblick stach sie zu. Sie stach mit dem Küchenmesser auf ihn ein - ein Mal und ein zweites Mal.
»Was ist das?« Ray hatte etwas aus dem Hohlraum hinter den Ziegeln hervorgezogen. Im Licht der Taschenlampe sah er schmutzige Lumpen. »Kleidung.« Er hatte sich seine Frage selbst beantwortet.
»Vermutlich sein Hemd.«
Ray fuhr zurück, stieß gegen die Waschmaschine und schrie: »Was ist da drin?«
»Du meinst, wer ist da drin.«
»Das ist … Da ist eine Leiche!«, schrie er.
»Henry Jackson. Dein Vater, Ray.«
»Warum? Warum?«
Seine Mutter seufzte schwer. »Oh, ich wünschte, du könntest es einfach auf sich beruhen lassen, aber du bist wie ich. Stur
und treu. Wenn ich doch nur all die Jahre nicht in der Nähe meiner Mutter hätte bleiben müssen, als
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