Wo die Toten ruhen - Psychothriller
Herz und sein Atem ihren Rhythmus fanden, wenn er an ihren Körper gelehnt entspannte. Jetzt wagte sie nicht, ihn zu überraschen, nun, wer wusste es denn schon? Angesichts des seltsamen Anfalls in der vorigen Woche war es durchaus möglich, dass er sie schlug.
Sie klammerte sich an das Geländer und wappnete sich. Sie wollte alles entzweireißen. Nur dann konnten sie es wieder flicken.
Ray sah die langen muskulösen Beine seiner Frau die Treppe zu seiner Werkstatt herunterkommen und sagte sich: Sag nichts. Lass sie nicht an dich ran.
Doch das war nicht leicht. Die Macht seiner Gefühle jagte ihm die gleiche Angst ein wie der Anblick von Godzilla, als er ein Kind gewesen war. Groß, gemein und böse. Das konnte man in letzter Zeit auch von ihm sagen, und das gefiel ihm überhaupt nicht, aber er wusste auch nicht, was er dagegen tun sollte.
Es war neun Uhr an einem Sommerabend, und draußen wurde es schon dunkel, doch Rays strahlend weiße Werkstatt im Keller war zeitlos und kühl. Obwohl er an diesem Abend, da er emotional mit etwas anderem befasst war, gar nicht bewusst wahrnahm, dass die Werkstatt angenehm kühl war. In einer neutralen Umgebung konnte er sich am besten konzentrieren. Er beugte sich auf seinem Herman-Miller-Stuhl vor, klebte ein kleines Stück Sperrholz, das für den Modellflugzeugbau gedacht
war, auf das Modellhaus aus Balsaholz und Styropor, das er gerade baute, und erinnerte sich dran, dass die Garage in der Bright Street immer ein wenig Schlagseite gehabt hatte.
»Hi.« Leigh verharrte am Fußende der Treppe. Um ihren Hals baumelte eine Brille, und ihr langes, helles Haar floss über ihre Schultern. Seidige Nylonshorts schnitten in ihre blasse Haut. Sie nagte an der Unterlippe.
»Hi.« Nur nicht mehr als das. Nur nichts preisgeben, denn er fürchtete sich vor einer weiteren Konfrontation mit ihr. Es führte zu nichts, sie bewegten sich in der Abwärtsspirale immer nur noch ein Stück weiter nach unten. Er hatte das schreckliche Gefühl, dass sie kurz davor waren, etwas Unwiderrufliches zu sagen, und das jagte ihm solche Angst ein, dass er sich fürchtete, überhaupt etwas zu sagen.
Den Blick auf sein Architekturmodell gerichtet, trat sie zum Tisch. Sie legte ihm eine Hand auf die Schulter. Ihre Berührung fühlte sich erzwungen an. Sein Herz schlug schneller.
»Welches ist das?«
»Als ich zehn war. In dem Jahr waren es drei.«
Sie neigte den Kopf zur Seite. »Das Fundament scheint sich zu neigen.«
»Genau wie in Wirklichkeit.« Sechs weitere Modelle standen auf dem Regal über dem schweren Holztisch. Er arbeitete weiter, reihte ein paar Dutzend Schindeln für das Garagendach auf. Er drückte ein wenig Klebstoff auf eine und versuchte dann, sie an die richtige Stelle zu drücken, doch seine Hand war fahrig, und die Schindel saß schief. Er atmete tief durch und richtete sie aus.
Sie sollte sofort gehen, damit er sich beruhigen und seine abscheulichen Gefühle dahin stecken konnte, wo sie hingehörten, irgendwo außerhalb dieses Raums. »Ist es draußen noch so heiß?«
»Ist auf dreiunddreißig Grad runter«, sagte sie. »Ich habe die Klimaanlage ein wenig runtergedreht.«
»Gut.«
Leigh setzte sich auf das lederne Liegesofa, eine tadellose Kopie des Originals von Mies van der Rohe.
Sie würde nicht gehen.
Ray klebte noch einige Schindeln an. Leigh schaute ihm dabei zu, obwohl sie gedankenverloren schien. »Du hast das Abendessen verpasst.« Er versuchte es mit einem normalen Tonfall. Sie sollte keinesfalls mitbekommen, wie wütend er gewesen war, welche Bilder ihm durch den Kopf gegangen waren, als sie nicht kam. Siehst du, so ist das mit Beziehungen. Seine Mutter hatte ihn gewarnt, dass das Herz - und nicht die Geschlechtsteile - das gefährlichste Organ im ganzen Körper war. Sie hatte ihn ermutigt, jede Menge Freundinnen zu haben, sein Herz jedoch für sich zu behalten, doch dann war Leigh dahergekommen und hatte es ihm direkt aus dem Leib gezupft, so mühelos, als würde sie am Wegesrand eine Wildblume pflücken.
Wie konnte sie nur?
»Ich dachte, du hättest gesagt, du würdest heute Abend kochen«, fuhr er fort. Erstaunlich, dass er weiterhin so funktionierte, als gäbe es bei ihnen noch etwas zu retten.
Gab es das? Die Frage verwirrte ihn, und er hielt für einen Augenblick in seiner Arbeit inne und versuchte nachzudenken.
Sie war verdutzt. »Wollte ich? Oh. Wahrscheinlich. Tut mir leid. Ich hab’s vergessen. Es tut mir wirklich leid, Ray, aber ich hatte etwas
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