Wo die verlorenen Seelen wohnen
HOMAS
A UGUST 2007
N achdem Shane und Geraldine ihn verlassen hatten, blieb Thomas McCormack noch lange allein in dem Keller, obwohl er eigentlich nach oben hätte gehen müssen, um seine Morphiumtabletten zu nehmen, denn die Schmerzen waren so stark geworden, dass er am liebsten nur noch aufgeschrien hätte. Sein Körper brauchte das Morphium jetzt ständig und er hätte sich dringend in ein Krankenhaus begeben müssen, aber ihm war nur allzu sehr bewusst, dass jeder Mensch, mit dem er in Kontakt kam, ein neues mögliches Opfer darstellte, das die Stimmen missbrauchen konnten. Deshalb blieb er trotz seiner Schmerzen einsam in diesem Haus.
Er wusste das so genau, weil er selbst einmal ein solches Opfer gewesen war. Er wusste noch genau, welchen Schrecken ihm damals in diesem Keller das Messer eingejagt hatte. Es war nicht richtig gewesen, in Gegenwart von Shane und Geraldine das Messer mit dem schwarzen Griff herauszuziehen und in den Brunnen zu werfen. Er hatte gehofft, dass der Junge es nun so mit der Angst zu tun bekommen würde, dass er nicht mehr zurückkehrte. Doch selbstsüchtigere Stimmen in ihm versuchten den Jungen zurückzulocken. Das unaufhörliche Flüstern und Wispern der Toten von Blackrock: der Kampf zwischenden Seelen, die diesem seltsamen Schwebezustand zwischen Erde und Totenreich ein Ende bereiten wollten, und den anderen, die es danach drängte, ein neues Opfer zu suchen, dessen Körper sie bewohnen konnten, um für die Dauer eines weiteren Menschenlebens Unsterblichkeit zu erlangen.
Zwischen all diesen Stimmen auf die seines eigenen Gewissens zu hören war schwer. Die Ärzte in den Irrenhäusern hatten bei ihm Schizophrenie diagnostiziert, eine schwere Persönlichkeitsstörung. Für ihn selbst war das nur ein leerer Name. Er nannte es bei sich anders. Es war der Fluch der Unsterblichkeit, worunter er litt. Die Einsamkeit desjenigen, der weder wirklich am Leben noch richtig tot ist.
Er hatte Blackrock verlassen, um diesen Stimmen zu entkommen. Er hatte sich in den großen Städten versteckt, nach denen er schon als Junge eine so große Sehnsucht verspürt hatte. Aber die Stimmen in seinem Kopf waren wie ein Bienenschwarm. In jeder Tür, die er hinter sich zugeschlagen hatte, fanden sie einen Spalt, denn man kann nicht bekämpfen, was stärker ist als das Leben selbst. Viele Jahre lang hatten die Stimmen anderswo überdauert, hatten sich in die Träume anderer Menschen geschlichen. Sie hatten sich bei Shanes Vater eingenistet und ihm eingeredet, er müsse seiner Familie ein besseres Leben ermöglichen. Sie hatten von einer starken, ehrgeizigen Schwimmerin Besitz ergriffen, bis sie schließlich im Meer ertrank und eine verletzliche kleine Tochter zurückließ.
Diese Stimmen würden alles tun, um weiter zu überleben. Sie hatten ihn dazu getrieben, Shane und Geraldine den Brunnen mit seinem Geheimnis zu zeigen. Er betete zu Gott, dass der Junge nicht in Versuchung geriet, doch noch einmal zurückzukommen. Aber Gott hatte mit dem Keller wenig zu tun. Draußen in dem wild überwucherten Garten hielt eineschwarze Katze Wache. Eine Katze, die einst um die Ruinen des Hellfire Club herumgestrichen war. Wenn Shane zurückkam, das schwor sich Thomas, dann würde er ihn nicht hereinlassen, dann würde er den Stimmen nicht helfen, die ihn selbst vor über siebzig Jahren in den Keller gelockt hatten. Er schloss die Augen und versuchte, den Schmerz abzuschütteln. Thomas McCormack rief sich alles in Erinnerung zurück. Er durchlebte noch einmal den Tag seiner Kindheit, an dem alles begonnen hatte.
S ECHSUNDZWANZIGSTES K APITEL
T HOMAS
A UGUST 1932
T homas McCormack ist vierzehn. Er wacht am Morgen vom üblichen Lärm der Karren und Milchkannen hinten im Hof auf. Er springt sofort aus dem Bett, weil auch nur das kleinste Anzeichen von Faulheit seine Mutter verdrießt. Sie ist der Meinung, dass kein ehrlicher Christenmensch nach Sonnenaufgang noch untätig sein soll. Aber es sind immer noch Ferien und die Schule fängt erst in zwei Wochen wieder an. So lange hat er das Gefühl von Freiheit. Bald wird Jack O’Driscoll anfangen, die Milchflaschen bei den Häusern in der Carysfort Avenue und der Newtownpark Avenue vor die Türen zu stellen. Als Thomas in die Küche hinuntergeht, beschließt er, seinem Freund dabei zu helfen. Wenn sie das zusammen erledigen, haben sie danach genug Zeit, um irgendwo heimlich ein paar Zigaretten zu rauchen und auf den Wiesen hinter Newtownpark House Jagd auf unsichtbare
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