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Wo die verlorenen Seelen wohnen

Wo die verlorenen Seelen wohnen

Titel: Wo die verlorenen Seelen wohnen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dermot Bolger
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Gefallen zu tun. Er beugt sich über das Wasser. Als er nach unten blickt, sieht er darin ihre beiden Gesichter gespiegelt. Aber Joseph wirkt in seinem Spiegelbild wie verwandelt, als wären die Verformungen durch seine Geburt verschwunden. Thomas bemüht sich, noch tiefer in den Brunnen zu schauen, plötzlich von der Idee besessen, dass dort überall unbekannte Gesichter lauern könnten. Er glaubt auf einmal nicht mehr Steine auf dem Grund zu sehen, sondern die Silhouetten unbekannter Städte. Das ist mein größter Wunsch,denkt Thomas. Ich wünsche mir, um die ganze Welt zu reisen. Er will die Würfel ins Wasser zurückwerfen, als Joseph seine Hand packt und wilde Laute ausstößt.
    »Was ist denn?«, fragt Thomas. »Willst du meinen Wunsch hören? Ich will kein Priester sein, der nur dorthin gehen darf, wohin ihn sein Bischof schickt. Ich will frei sein und alle großen Städte auf der Welt sehen.«
    Die Mächtigkeit, mit der er diesen Wunsch in sich aufsteigen spürt, erschüttert ihn. Er wirft die Würfel in den Brunnen und sieht ihnen zu, wie sie langsam nach unten sinken. Beide Male zeigt die Sechs nach oben, als sie schließlich auf den Kieseln liegen. Ein Schauder läuft ihm den Rücken hinunter, als er auf einmal begreift, woraus sie gemacht sind: aus Knochen. Und aus irgendeinem Grund glaubt er zu wissen, dass es sich um Menschenknochen handelt.
    »Was hättest du dir denn gewünscht, Joseph?«, fragt er.
    Joseph wiegt sich mit dem Oberkörper vor und zurück. Seine Zunge bringt nur ein Lallen zustande. Dann fährt sein Finger über den Staub auf dem Boden. Allmählich wird mit ungelenkem Strich ein Wort sichtbar. Es besteht nur aus drei Buchstaben.
    »Ich? Das heißt: du?«, fragt Thomas.
    Joseph nickt ungestüm, dann streicht er mit dem Zeigefinger das Wort durch.
    »Was meinst du damit?«, fragt Thomas. »Nicht du? Nicht mehr du?«
    In Josephs Mundwinkeln haben sich Schaumbläschen gebildet, seine weit aufgerissenen Augen glänzen. Meint Joseph wirklich sich selbst oder ihn, Thomas? Soll einer von ihnen beiden sterben? Wieder läuft Thomas ein Schauder über den Rücken. Da deutet Joseph von sich zu Thomas, einmal unddann noch einmal. Mit dem Finger schreibt er unsicher zwei Buchstaben in den Staub.
    »Du?«, fragt Thomas. »Du meinst: ich?« Wieder deutet Joseph zwischen ihnen beiden hin und her. »Wir beide zusammen?« Joseph schüttelt den Kopf. Thomas denkt noch einmal scharf nach. Dann kommt ihm ein Gedanke, bei dem er sich sehr unwohl fühlt. »Du wünschst dir, nicht länger du zu sein, sondern ich? Du willst ich sein?«
    Joseph nickt und zieht Thomas ganz nah neben sich. Mit der scharfen Klinge des Messers, dessen schwarzen Griff er fest umklammert hält, fährt er erst über Thomas’ Handgelenk und dann über sein eigenes. Thomas versucht sich loszureißen, weil es ihn auf einmal anekelt, das Blut hervorquellen zu sehen, aber Joseph packt seine Hand und presst die beiden Handgelenke ganz fest gegeneinander, sodass das Blut aus ihren beiden Wunden sich vermischt. Er taucht die beiden Hände in das Wasser des Brunnens ein, über den Würfeln. Thomas schließt die Augen, das eiskalte Wasser sticht in der frischen Wunde, und dann schwindet der Schmerz ganz plötzlich, der Schnitt scheint schon wieder verheilt.
    Er fühlt sich von so vielen neuen Empfindungen überschwemmt, dass er die Augen lieber noch eine Weile geschlossen hält, während er zu verstehen versucht, welche seltsamen Erinnerungen sich in ihm auf einmal auftun. Erinnerungen, die er doch gar nicht haben kann. Plötzlich weiß er, wie es sich anfühlt, in Gesellschaft anderer trunkener Wüstlinge auf den Teufel anzustoßen; oder zwischen Cholerakranken zu knien und den Sterbenden die Lippen mit Wasser zu benetzen; mit manipulierten Würfeln zu spielen, um an das nötige Geld zu kommen; halb verhungert zu sein und in den Bergen von Sträuchern Beeren zu pflücken; bei einem mächtigen Sturm im Innern eines Transportschiffs gefangen zu sein. Er kann sich auf einmal an so viele merkwürdige Dinge erinnern, dass ihm zumute ist, als hätte ein Riesenschwarm fremder Stimmen von seinem Gehirn Besitz ergriffen.
    Er will Joseph fragen, was geschehen ist, aber Joseph kann ihm ja nicht antworten. Er kann nicht sprechen. Doch auf einmal ist es Thomas, der nicht sprechen kann. Als er versucht, Worte zu formen, gelingt ihm das nicht. Er bringt mit seiner Zunge nur ein Lallen zustande. Thomas hört, wie Joseph den Stein wieder an seine Stelle

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