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Wo die verlorenen Seelen wohnen

Wo die verlorenen Seelen wohnen

Titel: Wo die verlorenen Seelen wohnen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dermot Bolger
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sie wartet. Und er soll einen besonders zärtlichen Blick haben, mit dem er ihnen in die Augen schaut, bevor er ihnen die Kehle aufschlitzt. Das Messer, mit dem er das macht, hat einen schwarzen Griff und er trägt es in einen Lumpen gewickelt immer bei sich. Joseph hat nie richtig lesen und schreiben gelernt, aber keiner weiß besser als er, wie man das Vertrauen von Tieren gewinnt.
    Auf einmal spürt Thomas, wie sich die Schweine bei Joseph fühlen müssen, denn in seinen Augen liegt eine hypnotische Kraft und gleichzeitig gibt er leise, brummende Laute von sich, um ihn zu beruhigen.
    Thomas wird den schmalen, abschüssigen Gang hinter der Küche entlanggezerrt, bis zu dem winzigen Kellerraum. In seiner Hilflosigkeit bleibt ihm nichts anderes, als zu beten. Wenn Joseph ihm die Kehle durchschneidet, wird man ihn dafür im Mountjoy-Gefängnis hängen. Thomas malt sich schon aus, wie er sich weigert, sich vom Henker einen schwarzen Sack über den Kopf ziehen zu lassen und ihn mit erstaunten Augen anschaut, während sich unter ihm die Klappe öffnet.
    Sie betreten den Keller, in dem alle möglichen kaputten Gerätschaften herumliegen. An diesem Ort würde bestimmt keiner nach ihm suchen. Als Joseph das Messer mit dem schwarzen Griff aus dem Lumpen auswickelt, versucht Thomas zu schreien, aber es dringt kein Laut aus seinem Mund. Der Krüppelkniet nieder und macht Thomas ein Zeichen, es ebenfalls zu tun. Wieder schaut er ihn mit seinem hypnotischen Blick an. Sein Gesicht ist zu einer Grimasse verzerrt. Thomas sinkt auf die Knie. Als Joseph das Messer hebt, ist der Junge auf alles gefasst. Gleich wird er die Klinge an seinem Hals spüren. Aber die Hand fährt nach unten und lockert mit dem Messer den Zement rings um die größte Bodenfliese.
    Joseph sticht wie ein Besessener immer wieder auf den Boden ein, nur manchmal schaut er kurz hoch und grinst. Thomas fragt sich, was wohl unter der Fliese zum Vorschein kommen wird: vielleicht noch ein Keller, von dem niemand weiß? Hat Joseph bereits andere Kinder umgebracht und die Leichen hier alle in einem schwarzen Loch versteckt? Die Vorstellung, dass sein Leichnam vielleicht nie gefunden werden wird, ist fast noch schlimmer als der Tod selbst. Joseph klemmt seine Finger unter die schwere Fliese und schafft es stöhnend, sie auf eine Seite zu zerren. Neugierig beugt Thomas sich vor. Ein überraschter Laut entfährt ihm, als er sein eigenes Spiegelbild sieht, das ihn anschaut.
    Er blickt in einen Brunnen, der kaum einen halben Meter tief zu sein scheint. Aber die Steine am Boden, so spürt er dunkel, würden unter ihm nachgeben, wenn er in das Wasser fiele. Er würde in eine unendliche Tiefe stürzen. Joseph murmelt etwas, ein undeutliches Gebrabbel, und deutet auf zwei winzige Würfel, die auf den Steinen liegen. Der Bucklige wirkt nicht mehr bedrohlich, als er Thomas’ Hand nimmt und sie in das eiskalte Wasser taucht. Thomas fragt sich, wer wohl sonst noch von diesem Brunnen weiß. Und welche Geheimnisse Joseph noch mit sich herumträgt. Sogar die Nonnen haben keine Ahnung, wie alt er eigentlich ist. Keiner in Blackrock kann sich an eine Zeit erinnern, in der es ihn noch nicht gegeben hat, und alle redensie in seiner Gegenwart völlig ungeniert über das, was sie bewegt, weil sie wissen, dass er es niemandem weitererzählen kann.
    Thomas beugt sich nach unten und es gelingt ihm, die beiden Würfel herauszuholen. Sie sind aus einem besonderen Material gefertigt, das er nicht recht einordnen kann. Auf einmal solche Würfel in der Hand zu halten ist für ihn ein neues, seltsames Gefühl, weil seine Mutter in ihrem Haus Würfel- oder Kartenspiele nicht erlaubt. Joseph gestikuliert wild, dass er die Würfel ins Wasser zurückschmeißen soll. Doch Thomas lässt sie über den Boden rollen und stellt erfreut fest, dass er zweimal die Sechs gewürfelt hat. Er wirft die Würfel ein zweites Mal und das Glück meint es immer noch gut mit ihm, denn er hat wieder eine doppelte Sechs. »Gewinn ich da jetzt nicht was?«, sagt er, halb im Scherz, halb im Ernst zu Joseph. »Was gewinn ich denn jetzt?«
    Der Stumme lallt wieder etwas, aber diesmal versteht Thomas, was er ihm sagen will.
    »Ich hab tatsächlich das Recht, mir was zu wünschen?«
    Die lallenden Laute verstummen. Noch nie hat Thomas vor sich ein so ernstes Gesicht gesehen. Joseph macht eine Kopfbewegung zum Wasser. Fast muss Thomas vor lauter Erleichterung lachen, aber Joseph schaut ihn so ernst an, dass er beschließt, ihm den

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