Wo die verlorenen Seelen wohnen
Thomas hielt die Kerze hoch, die Flamme flackerte und Geraldine befürchtete, sie würde gleich vom Luftzug ausgeblasen werden. Aber dann beruhigte sich die Flamme wieder, und als Geraldine in das schwarze Geviert schaute, wozuvor die Fliese gelegen hatte, sah sie dort eine zweite Flamme auftauchen und daneben ein von schwarzen Haaren umrahmtes Gesicht und ihre eigenen Augen, die sie verängstigt anstarrten. Sie begriff, dass sie auf ein Wasser hinabschaute, so still und reglos, dass es wie ein Spiegel war. Ein Schauder durchlief ihren Körper und sie wich zurück.
»Ich hab Angst vor Wasser«, flüsterte sie. »Meine Mutter ist ertrunken.«
»Ja, ich weiß«, sagte Thomas ruhig.
»Woher wissen Sie das?«, fragte Geraldine verwirrt.
Thomas blickte sie wie ertappt an. »Das hast du mir doch bei eurem ersten Besuch erzählt.«
»Hab ich nicht. Ich rede nie über sie. Mit niemandem.«
»Sie ist draußen in der Bucht ertrunken. Sie hatte einen plötzlichen Krampf in ihrem Bein, ihr war, als würde sie von einer Klaue umklammert und in die Tiefe gezogen, die aus der Hölle hochreichte«, antwortete Thomas und schaute gedankenverloren, fast wie hypnotisiert, in den Brunnen. »Michael Byrne hat das Haus über diesem Brunnen erbaut, damit ihm das Trinkwasser nicht von Feinden vergiftet werden konnte. Meine beiden Brüder wohnten ihr ganzes Leben lang hier in dem Haus, aber von der Existenz dieses Brunnens haben sie nie erfahren.«
»Und wer hat Ihnen davon erzählt?« Shane schauderte es, als ihm klar wurde, warum sich dieser Ort für ihn so vertraut anfühlte. Dies hier war der Keller, von dem er viele Monate lang geträumt hatte. Dies hier war der Brunnen, von dem sein Vater geträumt hatte, als er das Wasser durch die Holzdielen ihres alten Hauses hochsteigen sah.
»Ein Mann, der nicht sprechen konnte.« Thomas lachte auf, ein leises, bitteres Lachen. »Doch uns verband das böse Blut in unseren Adern.«
»Wie tief ist er denn?« Shane konnte nicht anders, er musste sich über das Wasser beugen, in dem er fasziniert sein eigenes Spiegelbild betrachtete.
»Man meint, er sei nicht sehr tief, vielleicht einen halben Meter, aber das täuscht. Wenn man hineinfällt, reicht es jedenfalls aus, um zu ertrinken, und man verschwindet darin für immer.«
Geraldine versuchte, Shane zurückzuziehen, aber etwas hatte sein Interesse erweckt.
»Da unten liegen Würfel«, sagte Shane. »Merkwürdig. Sie schimmern so seltsam. Ich glaube, ich kann sie mit der Hand erreichen.« Seine Fingerspitzen hatten das stille Wasser schon fast berührt, als Thomas seine Hand zurückriss.
»Rühre nicht daran«, zischte er.
»Lassen Sie mein Handgelenk los«, schimpfte Shane. »Ich wollte nur wissen, woraus sie gemacht sind.«
»Sieht nach Knochen aus«, sagte Geraldine. Aus ihrer Stimme war Abscheu und Faszination herauszuhören.
Thomas ließ Shanes Handgelenk los. »Es handelt sich um Reliquien«, sagte er. »Sie sind aus dem Knochen eines Heiligen gefertigt.«
»Menschenknochen!«, stieß Geraldine hervor.
»Wer mit diesen Würfeln spielt, bekommt alle seine Wünsche erfüllt«, fuhr Thomas fort. »Als ich so alt war wie ihr, habe ich diese Würfel einmal geworfen und mir dabei zwei Dinge gewünscht. Der eine Wunsch war für mich und der andere Wunsch für den Mann, der mein Blutsbruder wurde.« Aus seiner Jackentasche zog Thomas ein kleines Messer mit schwarzem Griff hervor. »Er ritzte unsere Handgelenke mit diesem Messer und dann pressten wir sie aneinander, bis unser Blut sich vermischte.«
Shane wich von dem schwarzen Wasser zurück. Die Klinge des Messers schimmerte im schwachen Kerzenlicht.
»Was ist geschehen, nachdem Sie Ihren Wunsch getan hatten?«, fragte er.
»Das sieht man doch, oder?« Thomas schleuderte das Messer mit aller Kraft in den Brunnen. In dem Kellergewölbe hallte der Aufprall auf dem Wasser vervielfacht wider. Geraldine und Shane zuckten zusammen. »Mir ist mein größter Wunsch erfüllt worden – und das ist die schlimmste Tragödie, die einem Menschen widerfahren kann.«
V IERUNDZWANZIGSTES K APITEL
J OEY
N OVEMBER 2009
B ongo Drums lehnte neben dem Schultor und blickte dem alten Mann nach, der davonschlurfte.
»Ist das dein neuer Freund, Joey?«, fragte er.
»Ich hab ihn noch nie vorher gesehen. Er wollte mich gar nicht gehen lassen.«
»Was hast du denn jetzt?«
»Eine Doppelstunde Chemie.«
»Sag Shakes … Mr Sweeney …, dass du spät dran bist, weil ich dir die Ohren mit den
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