Wo die Wahrheit ruht
wieder zuversichtlicher. “Sie haben freie Hand, die Galerie wiederzueröffnen und dort zu schalten und zu walten, wie es Ihnen beliebt. Ein Teil der Gemälde ist angekauft, manche sind in Kommission genommen worden. Dabei handelt es sich überwiegend um Werke ortsansässiger Künstler, die sich, nebenbei bemerkt, ziemlich gut verkaufen. Und keine Sorge, ich habe den Laden von oben bis unten von einer Putzkolonne reinigen lassen. Sie würden niemals ahnen, dass dort ein Mord geschehen ist.” Sie redete schnell und eindringlich. Dabei klang sie beinahe wie ein Immobilienmakler, der ein Haus verkaufen will. “Die Polizei hatte Stevens Porsche beschlagnahmt. Als die ihn nicht mehr brauchten, habe ich ihn zurück nach Philadelphia bringen lassen. Sein Mobiltelefon und sein Laptop haben sie ebenfalls sichergestellt, das ist bei einem Mordfall wohl üblich so.”
So genau wollte Grace das alles gar nicht wissen, dennoch unterbrach sie Sarah nicht. Jeder Mensch bewältigte Trauer auf seine eigene Art. Wenn dies Sarahs Art war, mit dem Verlust ihres Sohnes fertig zu werden, dann würde sie das nicht in Frage stellen, auch wenn sie die Mutter ihres Exfreundes nie gemocht hatte.
“Das Einzige, was ich mitgenommen habe”, fuhr Sarah fort, “ist seine wertvolle Armbanduhr, eine Rolex. Stevens Kleidung habe ich vorerst in seinem Cottage gelassen. Später werde ich sie vielleicht einer örtlichen Wohltätigkeitsorganisation spenden. Alle wichtigen Unterlagen – Kundenverträge, Ausstellungsdaten, Rechnungen etc. – finden Sie im Schreibtisch in der Galerie. Oh, und Sie brauchen noch den Code für die Alarmanlage. Ich habe ihn sicherheitshalber nicht aufgeschrieben, aber Sie werden ihn sich leicht merken können.”
“Mit Zahlen stehe ich auf Kriegsfuß.”
“Mit diesen nicht. Der Code ist Ihr Geburtsdatum – Monat und Jahr. Das Passwort lautet 'Madame Bovary' – nur für den Fall, dass der Alarm aus Versehen losgehen sollte. Die Anspielung sagt mir zwar nichts, aber Ihnen vielleicht.”
Und ob sie das tat. “Madame Bovary” war Grace' Lieblingsbuch. Immer wieder hatte sie es verschlungen und darauf bestanden, dass auch Steven es las. Nach heftigem Protest hatte er eingewilligt, es überhaupt einmal anzulesen, und dann hatte er das Buch gehasst. “Trotzdem, mein Entschluss steht fest. Ich werde die Erbschaft nicht annehmen.”
“Das weiß ich.”
Grace warf noch einmal einen Blick auf das Testament. Es fiel ihr schwer, wütend auf Steven zu sein, weil er sie in eine solche Lage gebracht hatte. Er war immer ein impulsiver Mensch gewesen und hatte sie oftmals mit seinen spontanen Entscheidungen in den Wahnsinn getrieben. Genauso wenig konnte sie Sarah vorwerfen, alles dafür zu tun, dass die Wünsche ihres Sohnes respektiert wurden. Auch wenn Grace allen Grund gehabt hätte, zornig auf ihn zu sein, so war ihre Zuneigung für Steven mindestens genauso stark.
“Sind Sie denn mit Stevens Entscheidung, mir die Galerie zu vermachen, einverstanden?”, fragte sie. “Damit haben Sie doch sicher nicht gerechnet.”
“Ich habe niemals an Ihrem Talent als Kunstexpertin gezweifelt, Grace.”
Das beantwortete zwar nicht gerade ihre Frage, aber Grace hakte nicht nach. “Also gut. Ich werde eine Woche in New Hope verbringen. Keine Minute länger.”
“Abgemacht.” Sarah griff erneut in ihre Handtasche. Diesmal zog sie einen dicken Umschlag hervor. “Hier drin finden Sie alles, was Sie brauchen: die Adressen von der Galerie und von Stevens Cottage, wo Sie wohnen werden. Auch die dazugehörigen Schlüssel sowie einen notariell beglaubigten Brief von Stevens Anwalt in Philadelphia, falls jemand Ihre Befugnis infrage stellt.”
“Glauben Sie, dass das passieren könnte?”
“Das bezweifle ich. Als ich in New Hope war, um die Überführung von Stevens Leichnam zu veranlassen, habe ich mit dem dortigen Polizeichef, Josh Nader, gesprochen. Er war sehr zuvorkommend. Ich habe ihm zwar von dem Testament erzählt, nicht aber von der speziellen Klausel für den Fall, dass Sie das Erbe ausschlagen. Was ihn und die Leute im Ort betrifft, sind Sie die neue Besitzerin der Hatfield Gallery. Polizeichef Nader lässt Ihnen ausrichten, dass Sie sich an ihn wenden sollen, wenn Sie etwas brauchen.”
“Waren Sie sich so sicher, dass ich hinfahren würde?”
Sarah überhörte die Frage und deutete auf den Umschlag in Grace' Hand. “Ich habe außerdem noch fünftausend Dollar beigelegt, um ihre Ausgaben …”
“Die werde ich
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