Wo die Wahrheit ruht
Traditionen. Bei den Vieros kam zuerst die Familie und dann die Karriere – zumindest, was die Frauen betraf.
Angie und Grace hatten sich vor vier Jahren kennengelernt. Grace hatte die Stelle als neue Kuratorin am Griff Museum of Modern Art angenommen, wo Angie bereits als Archivarin arbeitete. Da sie beide eine Leidenschaft für Kunst, italienische Cremeröllchen und alte Filme teilten, hatten sie auf der Stelle Freundschaft geschlossen.
Die Türklingel ertönte und unterbrach Grace' Beutezug durch ihren Kleiderschrank. Sie ging zur Gegensprechanlage des Schlafzimmers hinüber und drückte den Knopf. “Ja, Sam?”
Die Pförtnerin antwortete sofort. “Besuch für Sie, Miss McKenzie. Eine Mrs. Sarah Hatfield?”
Grace hörte, wie Angie mit sich rang und nach Luft schnappte, und hatte Mühe, nicht selbst vor Schreck umzufallen, denn vor zehn Jahren wäre Sarah Hatfield beinahe ihre Schwiegermutter geworden.
“Was kann denn die Ehrfurcht gebietende Sarah nach all den Jahren nur von dir wollen?”, flüsterte Angie.
“Keine Ahnung. Ich hätte nicht gedacht, dass sie überhaupt weiß, wo ich wohne.”
Angie verzog das Gesicht zu einer Grimasse. “Sarah bleibt nichts verborgen. Und deshalb werde ich jetzt schleunigst von hier verschwinden.”
“Du willst mich doch wohl nicht mit ihr alleine lassen.”
“Sorry, aber da musst du alleine durch. Diese Frau kann ich nicht ausstehen.”
“Du hast sie doch nie kennengelernt!”
“Ihr Ruf eilt ihr voraus.” Sie drückte Grace einen flüchtigen Kuss auf die Wange, flüsterte noch ein hastiges “Schön cool bleiben” und schon war sie weg.
“Miss McKenzie?” Sam klang besorgt. “Soll ich die Dame hochschicken?”
Grace spähte hinter dem mit Seide bespannten Wandschirm hervor, der ihr Schlafzimmer vom Rest des Apartments abtrennte, und warf einen kurzen Blick in den Wohnbereich. Auf dem gläsernen Couchtisch standen zwei leere Kaffeebecher neben einem angebissenen Bagel. Mehrere Seiten des Boston Globe lagen auf dem Boden verstreut, und die ungelesene Post vom Vortag wartete noch immer auf dem Sofa, wo Grace sie am Vorabend hingeworfen hatte. Die Wohnung war das reinste Chaos. Wann hatte sie eigentlich das letzte Mal Staub gewischt?
“Miss McKenzie, soll ich ihr sagen, dass es im Moment ungünstig ist?”
Ja, Sam, genau, sag ihr, ich sei umgezogen und hätte keine neue Adresse hinterlassen. Sag ihr, ich sei gestorben.
“Ist schon in Ordnung, Sam. Sie können sie hochschicken.”
Grace ließ die Sprechtaste los, eilte ins Wohnzimmer hinüber, sammelte hastig einige Sachen zusammen und schleuderte sie hinter den Wandschirm. Sarah hasste Unordnung. Das war nur einer von vielen Punkten gewesen, die ihr an ihrer zukünftigen Schwiegertochter missfallen hatten – die Unordnung. Grace hingegen konnte ohne sie nicht leben. “Ich brauche das kreative Chaos”, hatte sie Sarah damals erklärt. Statt einer Antwort hatte die Ältere nur hochmütig die rechte Augenbraue hochgezogen – ein Gesichtsausdruck, bei dem Grace früher jedes Mal ein kalter Schauer den Rücken hinuntergelaufen war.
Das Läuten der Türglocke setzte ihrem hektischen Treiben ein Ende.
Grace zwang sich zu Ruhe, ging zur Tür und öffnete sie. Stevens Mutter waren die Jahre nicht anzusehen. Obwohl sie mittlerweile um die siebzig sein musste und ihr Haar völlig ergraut war, ließ ihre kurze modische Frisur sie um Jahre jünger aussehen. Ihre haselnussbraunen Augen blickten scharf wie eh und je. Doch heute bemerkte Grace einen Ausdruck in ihrem Blick, den sie nicht einordnen konnte.
“Hallo Grace.” Sarah musterte sie von Kopf bis Fuß, betrachtete ihre schlanke Figur, die kurzen, strubbeligen Haare, das Footballtrikot mit der Nummer zwölf und dem Namen des Star-Quarterbacks der New England Patriots, Tom Brady, auf der Vorderseite, die blaue, an den Knien zerrissene Jeans.
Grace nickte ihr verlegen zu. Selbst jetzt, da ihr Sarahs Gunst nichts mehr bedeutete, empfand sie ein unbehagliches Gefühl dabei, mit dieser distinguierten Dame der High Society von Philadelphia im selben Raum zu stehen. “Sarah.” Sie räusperte sich. “Was für eine Überraschung, Sie zu sehen.”
“Das kann ich mir vorstellen.” Da Grace noch immer keine Anstalten machte, sie hereinzubitten, fügte Sarah hinzu: “Komme ich ungelegen?”
“Das kommt der Sache ziemlich nahe, aber es macht nichts. Kommen Sie herein und stören Sie sich bitte nicht an der Unordnung.”
Drinnen fuhr Sarah mit ihrer
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