Wo Elfen noch helfen - Walter, A: Wo Elfen noch helfen
von Weitem auf die Stadt zufährt, weil sie erhaben auf einem Hügel steht und ihr Turm wie eine Rakete in den Himmel ragt. Sie ist aus Beton und ihre Fassade ein Orgelwerk aus feinen Pfeilern, die an die Basaltsäulen in der isländischen Natur erinnern. Auf dem Platz vor der Kirche thront eine Statue. Es ist der Wikinger Leifur Eiríksson. Islands ganzer Stolz. Denn »der Glückliche«, wie er auch genannt wird, entdeckte Amerika lange bevor Kolumbus das tat, und zwar schon um das Jahr 1000 herum. Was wiederum gut zum Selbstbild der Isländer passt. Geht es um Weltgeschichte, so ist man überzeugt, kommt man an ihrer Insel einfach nicht vorbei. Und so erfährt jeder Besucher früher oder später, dass Island einer der Auslöser für die Französische Revolution gewesen ist.
Ist doch klar: Im Jahr 1783 brach die 25 Kilometer lange Feuerspalte Laki aus, die im Süden des Landes liegt. Und sie hörte nicht auf, zu spucken, bis ein ganzes Jahr vergangen und so viel Lava aus ihrem Inneren hervorgesprudelt war, dass sie fast die Fläche des ungarischen Plattensees einnahm. Es war einer der verheerendsten Vulkanausbrüche in historischer Zeit. Denn eine gewaltige Aschewolke verdunkelte die Atmosphäre, mehr als 120 Millionen Tonnen Schwefeldioxid verpesteten die Luft und vergifteten das Weideland. Es folgte eine Hungerkatastrophe
bei der ein Fünftel der isländischen Bevölkerung starb, genauso wie die Hälfte der Rinder, drei Viertel der Pferde und mehr als 80 Prozent der Schafe. Man überlegte damals ernsthaft, alle Isländer von der Insel zu evakuieren. Doch das war noch nicht alles. Ein diesiger Dunst, angefüllt mit giftigen Gasen, waberte auch herüber zum europäischen Festland und verschleierte in den folgenden Sommern den Himmel. Es kam zu heftigen Ernteausfällen, besonders in England und Frankreich. Folglich stiegen die Brotpreise. Die Franzosen gingen auf die Barrikaden. Der Rest ist Geschichte. Sie wissen schon: Sturm auf die Bastille, rollende Köpfe, Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit.
So ist das übrigens oft in Island. Man hört von den erstaunlichsten Theorien oder es zeigen sich Verbindungen zwischen Island und dem Lauf der Welt, wenn nicht gar des Universums, die auf den ersten Blick hanebüchen erscheinen. Doch dann ist – zumindest auf die eine oder andere Art – immer etwas dran. Darüber nachzusinnen, inwieweit die Welt um Island kreist, ist eine Art nationales Hobby der Isländer. Deshalb verweisen sie auch gern darauf, dass der französische Autor Jules Verne seinen Roman Reise zum Mittelpunkt der Erde auf ihrer Insel beginnen lässt. Denn mal ehrlich, wo sonst sollte er liegen, der Zugang zum Zentrum der Welt?
Aber zurück zum Turm der Hallgrímskirkja. Von hier oben blicke ich auf die Landzunge, auf der Reykjavík liegt und auf ein buntes Dächermeer in grasgrün, himmelblau und ochsenblutrot. »Unsere Häuser sind so bunt, weil wir alle Individualisten sind«, hat mir eine Stadtführerin einmal erklärt. Rund um die Landzunge herum erstreckt sich das Meer. Zur Rechten, auf der gegenüberliegenden Uferseite, prangt der Hausberg Esja. Zur Linken, mitten in der Stadt, liegt der Stadtsee Tjörnin. Über 40 Vogelarten sind hier zu Hause.
Ab Mai 2010 werden an diesem See übrigens noch ein paar mehr schräge Vögel hausen. Denn da wird der beliebteste Komiker Islands zum Bürgermeister gewählt und zieht mit seinen Künstlerfreunden ins Rathaus ein, das direkt am Ufer des Sees gelegen ist. Doch davon ahnt man im Jahr 2003 noch nichts. Genauso wenig wie von der schweren Finanzkrise, die 2008 über das Land hereinbricht oder von dem Vulkanausbruch, der Europas Flugverkehr zwei Jahre später lahmlegen wird. Aber so ist Island: Immer für Überraschungen gut.
Das nur nebenbei. Denn vorerst ist das Jahr 2003 und die Stadt Reykjavík erscheint in meinen Augen reizend harmlos. Ein Vorurteil, das sich mit dem ersten Freitagabend zwar ändern soll, auf den ersten Blick aber wirkt die Stadt unschuldig wie ein Islandlamm. Die bunten Häuser mit den weißen Fensterrahmen geben ein typisch skandinavisches Bild ab, nur dass viele von ihnen mit Wellblech verkleidet sind, weil der Regen in Island gern horizontal aufschlägt. Weshalb man hier auch keine Regenschirme benutzt. Durch die Häuserreihen schaue ich hinab auf das Meer. Vom Berg Esja in der Ferne sieht man jede Faser, vom Nordatlantik das dunkle Blau. Nie habe ich eine Hauptstadt gesehen, in der man einen solch erfrischend-klaren Blick auf die
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