Wo gute Ideen herkommen.: Eine kurze Geschichte der Innovation. (German Edition)
hätte. Im Bereich des Möglichen wäre es, und unbestreitbar ist, dass Ende August 2001 die einzige Hoffnung, die Anschläge zu verhindern, darin gelegen hätte, diese beiden Ahnungen miteinander zu verbinden.
Das Versanden des Phoenix-Memos bringt uns jedoch dem Geheimnis der superlinearen Skalierung in Großstädten und dem World Wide Web ein ganzes Stück näher, denn die haben eine wichtige Gemeinsamkeit: Beides sind hoch verdichtete, flüssige Netzwerke, in denen Informationen sich schnell und über unvorhersehbare Kanäle verbreiten. Genau diese Art der Vernetzung ist es, die geniale Ideen fördert, denn die meisten genialen Ideen sind anfangs noch unausgereift, mehr Ahnung als Offenbarung.
Spontane Einsichten sind selten. Es ist nicht leicht, einen programmierbaren Computer zu erfinden oder sich vorzustellen, dass Terroristen planen könnten, Passagierflugzeuge in Gebäude zu fliegen. Deshalb nehmen die meisten genialen Ideen zunächst nur zögerlich und unvollständig Gestalt an. In ihnen schlummert zwar die Saat des Genialen, aber es fehlt ein wichtiges Element, um aus der bloßen Ahnung etwas wahrhaft Großes zu machen. Nicht selten befindet sich dieses fehlende Element auch irgendwo, und zwar in Form einer weiteren Ahnung im Kopf eines anderen. Flüssige Netzwerke erschaffen eine Umgebung, in der solche halb fertigenIdeen miteinander in Verbindung treten können; sie sind eine Art Partnervermittlungsagentur für vielversprechende Ahnungen. Sie machen es leichter, gute Ideen zu verbreiten, aber sie tun noch etwas viel Großartigeres: Sie helfen, gute Ideen zu vervollständigen.
Das Problem mit Williams‘ Ahnung war nicht, dass er die Details nicht kannte oder wie kurz die Anschläge bereits bevorstanden, sondern es lag im Umfeld: Statt über ein dichtes Netzwerk möglichst weit verteilt zu werden, versandete das Phoenix-Memo im Automated Case Support System des FBI. Statt neue Verbindungen ausfindig zu machen, landete es, bildlich gesprochen, in einem verschlossenen Aktenschrank. Ahnungen, die sich nicht vernetzen können, sind dazu verdammt, nie über das Stadium der Ahnung hinauszukommen.
Es gibt einen fundamentalen Unterschied zwischen den Ahnungen aus Phoenix und Minnesota, und dieser Unterschied ist die Zeit: Die Fluglehrer hatten innerhalb weniger Stunden ein ungutes Gefühl wegen ihres neuen Schülers. Etwas an Moussaouis Verhalten und an den Fragen, die er stellte, beunruhigte sie. Ken Williams‘ Verdacht bezüglich der Flugschulen hingegen entwickelte sich über Jahre hinweg. Er hatte das Phoenix-Memo nicht aus einem Bauchgefühl heraus verfasst. Es war vielmehr eine Ahnung, die im Lauf der Zeit immer konkretere Gestalt angenommen hatte, ein Muster, das er nach zahllosen Stunden der Beobachtung und Auswertung entdeckt hatte.
Das Beispiel aus Minnesota hat in den letzten Jahren viel Beachtung gefunden: das Bauchgefühl oder »emotionale Gehirn«, das sich in einer Blitzeinschätzung der Situation über das wesentlich langsamer arbeitende logische Denken hinwegsetzt und am Ende sogar recht behält. Das intellektuelle Interesse an dieser Art von Ahnung lässt sich bis zurück in die 1980er Jahre verfolgen, alsder Neurowissenschaftler António Damásio das Verhalten von Patienten mit Hirnschädigungen untersuchte. Die Patienten waren wegen ihrer Beeinträchtigung nicht mehr in der Lage, Situationen intuitiv und unmittelbar einzuschätzen, was zu teilweise bestürzend irrationalem Verhalten führte. In Malcolm Gladwells Bestseller Blink geht es fast ausschließlich um die Macht (und manchmal auch die Gefahr), die Sofortahnungen innewohnt. Dort wird die Geschichte eines Kunsthistorikers erzählt, der binnen einer Sekunde wusste, dass die antike Skulptur vor ihm eine Fälschung war, aber auch die vom Polizisten, der vorschnell zu dem Schluss kam, ein Verdächtiger, der eigentlich nur seine Brieftasche hervorholen wollte, würde eine Waffe ziehen, was katastrophale Folgen hatte.
In der Geschichte der weltverändernden Ideen sind spontane Eingebungen – so wertvoll sie auch oft sein können – eine echte Seltenheit. Die meisten Ahnungen, die zu wichtigen Innovationen führen, brauchen geraume Zeit, um sich zu entwickeln. Sie beginnen als vages, nur schwer in Worte zu fassendes Gefühl, dass es für das anliegende Problem eine interessante Lösung geben könnte, auf die noch niemand gekommen ist. Dann verweilen sie, manchmal jahrzehntelang, in den dunklen Ecken des Bewusstseins, knüpfen
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