Wo gute Ideen herkommen.: Eine kurze Geschichte der Innovation. (German Edition)
und leise schleicht sie sich in kleinen Schritten ins Bewusstsein.
Dieses Muster findet sich auch in dem anderen wichtigen Abschnitt von Darwins Forschungsreise mit der Beagle. Die bemerkenswerten Abweichungen innerhalb ein und derselben Art, die Darwin auf den verschiedenen Inseln des Galapagosarchipels beobachtete, waren unter den ausschlaggebenden Faktoren, die ihn auf die Theorie der natürlichen Selektion brachten. Die Darwinfinken sind also nicht ohne Grund so berühmt. Aber in den entsprechenden Notizen aus dem Oktober 1835 geht es fast ausschließlich um Geologie. Darwin beschäftigt sich mehr mit Lyells Theorien als mit den Vögeln und Echsen auf dem Archipel (bei einer Bestandsaufnahme von Darwins Notizbüchern fanden sich 1383 Seiten mit Einträgen zur Geologie; zur Zoologie waren es nur 368). Ganz in der Manier eines »Naturforschers« machte Darwin ausführliche Notizen, aber all die spekulative Energie der auf der Beagle verfassten Tagebücher fließt in die Geologie. Eigentlich war die Galapagosexpedition eine biologische Forschungsreise, aber es war Darwin der Geologe, der die Entdeckungen und Beobachtungen bewusst registrierte und verarbeitete.
Laut Darwins eigener Darstellung fielen ihm die rätselhaften Variationen unter den Finken und anderen Arten erst im nächsten Frühling auf, als die
Beagle
die Kokosinseln erreicht hatte. In seinen Einträgen aus dem Jahr 1837 findet sich die Zeile: »Im Juli erstes Notizbuch zu ›Transmutation der Arten‹ begonnen. Beschaffenheit der südamerikanischen Fossilien und Spezies auf den Galapagosinseln haben seit vergangenem März großen Eindruck auf mich hinterlassen. Dortige Beobachtungen (vor allem der Spezies) Grundlage aller meiner Theorien.« Darwin hatte die überwältigende Artenvielfalt auf Galapagos mit eigenen Augen gesehen und sie mit einer noch nie da gewesenen Detailgenauigkeit dokumentiert. Dennoch dauerte es fünf Monate, bis er begriff, warum diese Beobachtungen so wichtig waren.
Eine langsame Ahnung am Leben zu erhalten, stellt auf mehreren Ebenen eine Herausforderung dar. Grundvoraussetzung ist, sie überhaupt im Gedächtnis zu behalten, im dichten Netzwerk der Gehirnzellen. Die meisten langsamen Ahnungen überleben nicht lange genug, um sich in etwas Nützliches zu verwandeln. Eben weil sie zunächst nicht greifbar sind, verschwinden sie genauso schnell wieder aus dem Gedächtnis, wie sie gekommen sind. Wir haben das Gefühl, auf etwas Interessantes gestoßen zu sein, auf ein Problem, das uns eines Tages zu einer Lösung führen könnte, doch dann werden wir von drängenderen Angelegenheiten abgelenkt, und die Ahnung ist wieder weg. Ein Teil der Kunst, eine Ahnung zu kultivieren, besteht also in einem ganz einfachen Trick: Alles aufschreiben.
Wir können die Evolution von Darwins Gedankengängen so genau verfolgen, weil er all seine Gedanken penibel in Notizbüchern festhielt. Dort zitierte er andere Quellen, entwickelte aufs Geratewohl neue Ideen, überprüfte und verwarf falsche Fährten,zeichnete Diagramme und brachte einfach alles, was ihm durch den Kopf ging, zu Papier. Darwins Notizbuch war
das
Werkzeug, mit dem er seine Ahnungen kultivierte. Die Eintragungen brachten nicht nur in Schriftform, was unsichtbar in Darwins Gehirnwindungen vor sich ging, Darwin sah seine Notizen auch immer wieder durch und entdeckte dabei ständig neue Deutungsmöglichkeiten. Seine Ideen entstanden in einer Art Duett zwischen den in der Vergangenheit liegenden und zu Papier gebrachten Beobachtungen und den Gedanken, die er sich in der Gegenwart dazu machte. Irgendwo mitten im Indischen Ozean zwingt ihn eine Kette von Assoziationen geradezu, die fünf Monate alten Notizen zur Fauna der Galapagosinseln noch einmal durchzugehen. Und während er liest, nimmt in seinem Geist bereits ein neuer Gedanke Gestalt an, zu dem Darwin weitere Notizen macht, die er erst zwei Jahre später völlig begreifen wird, nachdem er Malthus gelesen hat.
Darwins Notizbücher sind das Produkt einer langen und fruchtbaren Tradition, die während der Aufklärung vor allem in England ihre größte Blüte erlebte: das sogenannte Kollektaneenbuch. Wissenschaftler, Gelehrte, ehrgeizige Hobbywissenschaftler, so gut wie jeder, der im 17. und 18. Jahrhundert irgendwelche geistigen Ambitionen verfolgte, hatte eines. Die großen Denker dieser Zeit wie Milton, Bacon oder Locke hielten große Stücke auf diese Art von Gedächtnishilfe. »Commonplacing«, wie die Praxis, ein solches Buch zu
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