Wo ich zu Hause bin
dass immer weniger Menschen in den Sonntagsgottesdienst kommen. Diejenigen, die wegbleiben, sagen, dass ihnen der Gottesdienst nichts bringe und dass er für sie eine fremde Welt sei. Wir müssen den Widerstand gegen den Gottesdienst durchaus ernst nehmen und uns fragen, wie wir denn die alten Rituale heute feiern sollen, ob unsere Sprache nicht an den Menschen vorbeigeht. Auf der anderen Seite wäre es gerade die Herausforderung, die Rituale so zu erklären, dass sie die tiefste Sehnsucht der Menschen ansprechen. Nur ein Beispiel: Wir beten in jedem Gottesdienst das Vaterunser. Auch da sagen viele, dass diese vorgeformten Worte für sie nur leere Worte sind, die sie nicht nachvollziehen können. Doch wenn ich mir bewusst mache, dass diese alten Worte auch meine verstorbenen Eltern, Großeltern und Urgroßeltern gebetet haben, bekommen sie für mich auf einmal eine andere Bedeutung. Dann spüre ich: Es sind die gleichen Worte, die ich heute spreche, mit denenmeine Vorfahren ihr Leben gemeistert haben, mit denen sie ihre Sorgen und Ängste vor Gott getragen haben, mit denen sie sich immer wieder in Gottes Willen hinein ergaben. Und ich kann mir vorstellen: In dem Augenblick, in dem ich diese Worte als Glaubender bete, beten meine Vorfahren sie als Schauende. So habe ich jetzt im Beten teil an ihrer Glaubenskraft und schon an ihrer Vollendung. Etwas in mir schaut schon über die Schwelle. Etwas in mir ist schon angekommen bei Gott, meiner letzten Heimat.
Wenn ich in unserer Abteikirche im Chorgestühl nach der Komplet noch einige Augenblicke still stehend den Raum auf mich wirken lasse, fühle ich mich auch daheim. Nicht die Ästhetik des Raumes allein, die mit ihrem großen Bogen schon Geborgenheit ausdrückt, lässt mich Heimat spüren. Ich erinnere mich vielmehr an all die Mönche, die hier vor mir gebetet haben, diejenigen, die in früheren Jahrhunderten hier ihr Mönchsein gelebt haben, aber auch all diejenigen, die ich noch gekannt habe und nun schon gestorben sind. Dann stelle ich mir vor, wie sie diesen Raum mitgeprägt haben. Ich erinnere mich an Gottesdienste, die unter die Haut gingen, in denen ich tief berührt war. Heimat ist nie nur ein äußerer Ort, sondern der Ort, der getränkt ist von Erinnerungen an Menschen, denen ich etwas verdanke, aus deren Wurzeln ich heute noch zu leben vermag.
Eine andere Erfahrung, die ich auf meinen Reisen immer wieder machen durfte: Wenn ich in Brasilien oder in Kenia oder Tansania mit den dortigen Christen Eucharistie feiere oder wenn ich mit den dortigen Mönchendas Chorgebet bete, fühle ich mich sofort daheim. Diese Erfahrung bestätigen mir meine Mitbrüder, die in der Mission arbeiten. Gerade heute, im Zeitalter der Globalisierung, hat hier die Kirche eine wichtige Aufgabe: Sie kann den Menschen – ganz gleich in welche Länder sie beruflich hinkommen – in ihren Gottesdiensten und in ihren Gemeinden Heimat gewähren. Früher war das Latein als liturgische Sprache in der katholischen Kirche auf der ganzen Welt eine noch einheitlichere Klammer. Aber auch wenn die Liturgie in der Muttersprache gefeiert wird, die ich vielleicht gar nicht verstehe, fühle ich mich doch daheim. Es sind die gleichen Rituale. Es ist der gleiche Gottesdienst. Es geht um Jesus Christus, der in unserer Mitte ist. Und dort wo er im Zentrum steht, entsteht für die Menschen, die sich um ihn sammeln, Heimat.
Die Kirchen ändern sich, wenn sie im Zeitalter der Mobilität gerade für die Migranten zur Heimat werden. In vielen Gemeinden engagieren sich Christen, die aus anderen Ländern stammen. Aber es gibt auch die Tendenz, in Deutschland eigene kroatische, italienische, portugiesische, spanische oder russische Gemeinden zu gründen, die ihre eigenen Gottesdienste feiern. In diesen Gemeinden fühlen sich vor allem die wohl, die noch nicht voll in ihre Umgebung integriert sind. Sie erfahren in den Gottesdiensten in ihrer Sprache Heimat. Beides hat seine Berechtigung: die Erfahrung von heimatlicher Kirche mitten in der Fremde und die Erfahrung des Daheimseins in der heimischen Kirche, auch wenn sie ein anderes Gesicht hat als die Gemeinde in der früherenHeimat. Auf jeden Fall haben die Kirchen eine wichtige Aufgabe, nicht nur den Migranten zu helfen, in der Fremde Heimat zu erfahren, sondern all denen Heimat zu vermitteln, die sich in dieser Gesellschaft nicht zu Hause fühlen. Es sind die Menschen, die psychische Probleme haben, die Menschen, die aus irgendeinem Grund nicht geheiratet haben,
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