Wo immer Du bist, Darling
Einverständnis als Neuanfang, denn er drehte sich wieder um und fuhr los.
Einige Minuten später saßen sie in einem kleinen Diner, der sich nur drei Straßen vom Polizeigebäude entfernt befand. Sie rührte ungeduldig in ihrem Kaffee. »Wie spät ist es?«
Neumeier nahm den Arm von der Tischplatte, zog den Ärmel seines dunkelgrauen Anzugs zurück und legte eine schlichte Uhr frei. »Viertel vor zehn.«
*
Carolin Schuster ließ den Teelöffel laut scheppernd auf die Untertasse fallen, was ihnen die neugierigen Blicke der übrigen Gäste einbrachte.
Oliver seufzte. Es war nahezu unmöglich, mit dieser Frau nicht aufzufallen. Sorgte ihre leuchtende Haarfarbe nicht schon für genug Aufsehen, ihr Verhalten tat es bestimmt.
»Die nutzlose Warterei kostet mich den letzten Nerv«, klagte der Rotschopf gerade und stützte den Kopf in die Hände. »Es muss doch etwas geben, was ich tun kann. Irgendetwas!«
Er musterte sie unschlüssig. Mittlerweile hatte er begriffen, dass hinter ihrer zänkischen Art enorme Sorge um ihre Freundin steckte. Er wollte gern etwas Nettes sagen, hatte aber keine Lust, sich gleich wieder eine bissige Abfuhr einzuhandeln. Er riskierte es trotzdem. »Sie haben schon genug getan. Ich kenne nicht sehr viele Menschen, die sich so beherzt für einen anderen einsetzen würden.«
*
Carolin sah erstaunt auf. Hatte Neumeier ihr etwa gerade ein Kompliment gemacht? Dies war einer der seltenen Momente, in denen sie nicht so recht wusste, was sie erwidern sollte. »Danke«, murmelte sie schließlich etwas lahm.
»Woher kennen Sie beide sich?«, fragte Neumeier nach, offenbar ehrlich daran interessiert.
Sie lehnte sich zurück und spielte mit dem Süßstoffpapierchen neben ihrer Tasse. »Das ist eine lange Geschichte.«
Er wartete geduldig. Carolin zögerte. Sollte sie ausgerechnet ihm von den Umständen ihrer ersten Begegnung erzählen? Sie dachte an ihre Freundin, die irgendwo da draußen ums Überleben kämpfte, und plötzlich wollte sie unbedingt über Anja reden. Es war, als könnte sie auf diese Weise verhindern, dass ihr etwas zustieß.
»Anja arbeitete als Stationsschwester in dem Krankenhaus, in das ich vor drei Jahren eingeliefert wurde«, begann sie langsam. »Ich hatte schlimme Prellungen und außerdem zwei Rippenbrüche.«
Neumeier betrachtete sie aufmerksam, erwiderte aber nichts. Irgendwie schien er zu spüren, dass das, was sie ihm gleich erzählen würde, tief saß.
»Ich habe den Ärzten gegenüber zwar immer wieder beteuert, dass ich nur die Treppe heruntergefallen bin«, sprach sie weiter, »aber Anja wollte davon nichts hören. Sie hat mir so lange zugesetzt, bis ich ihr erzählt habe, was es wirklich mit meinen Verletzungen auf sich hatte, bis ich ihr von meinem damaligen Mann Stefan erzählt habe.« Sie schwieg kurz. »Ob Sie es glauben oder nicht, mein Exmann war ein wahrer Experte darin, eine Frau krankenhausreif zu schlagen.« Sie hob den Blick, als sie Neumeiers unterdrücktes Keuchen hörte.
Ein bitteres Lächeln umspielte ihre Lippen. »Sie hätten wohl nicht gedacht, dass mir so etwas passiert ist, oder?«
Neumeier atmete tief durch. »Nein, aber wir kennen uns ja auch erst wenige Stunden. Es gibt Dinge, die man nicht gerade auf der Stirn gedruckt mit sich herumträgt, Dinge, die man lange still in sich verschließt.«
Carolin betrachtete ihn nachdenklich. So viel Einfühlungsvermögen hätte sie ihm nicht zugetraut. Etwas gelöster fuhr sie fort. »Jedenfalls hat mich Anja so weit gebracht, dass ich den Scheißkerl angezeigt habe. Er wurde wegen schwerer Körperverletzung zu fünf Jahren Knast verurteilt. Sitzt bis heute. Ich habe mich von ihm scheiden lassen und ein neues Leben begonnen. Seitdem ist Anja wie eine Schwester für mich. Ich würde alles für sie tun.«
Neumeier nickte langsam. »Es gehört viel Mut dazu, sich gegen den eigenen Mann aufzulehnen. Das muss unglaublich schwer für Sie gewesen sein.«
Sie betrachtete ihn immer noch, sah ihn allmählich mit anderen Augen. »Ja, das stimmt«, bestätigte sie leise. »Sie können sich nicht vorstellen, wie sehr man sich durch so ein Erlebnis verändert.«
*
»Doch, das kann ich«, gab Oliver ohne nachzudenken zurück. »Meine Exfrau hat ständig gedroht, sich umzubringen, wenn ich ihren Wünschen nicht Folge leiste. Natürlich hat sie es letztlich nicht getan, aber davon konnte ich damals nicht ausgehen. Die Trennung war wie eine Befreiung.« Bestürzt klappte er den Mund zu.
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