Wo immer Du bist, Darling
unverändert da, betrachtete ihn mit einem verwirrten Gesichtsausdruck. Er konnte es ihr nicht verdenken, nach dem, was er gerade abgezogen hatte.
Er sprach mit beherrschter Stimme, die in keiner Weise sein inneres Gefühlschaos offenbarte. »Wir müssen schnellstens zurück zu dem Baumstamm und aus den nassen Sachen raus, sonst holen wir uns noch den Tod.«
*
Mühsam rappelte sich Anja hoch und sah in seine Richtung. Sie hatte das Erlebte immer noch nicht verdaut. Noch nie in ihren achtundzwanzig Jahren war sie so intensiv geküsst worden wie von Ramon. Und ganz sicher hatte sie noch nie derart extrem auf einen Mann reagiert. Dass sie ihn so gut wie gar nicht kannte, setzte dem Ganzen noch die Krone auf.
Mit dir sind nach dem Schreck einfach die Nerven durchgegangen, beruhigte sie sich, aber tief in ihrem Herzen wusste sie, dass das wahrlich nicht der einzige Grund gewesen sein konnte. Irgendetwas an ihm hatte sie glatt umgehauen …
Als könnte sie die Antwort aus seiner Mimik lesen, heftete sich ihr Blick darauf.
Seine versteinerten Züge sprachen eine eigene Sprache.
Er wollte den Vorfall ignorieren? Gut, das konnte sie auch. »Glaubst du nicht, dass dein Bruder und seine Männer dort vielleicht auf uns warten?«, fragte sie mit möglichst normaler Stimme.
Ramon schüttelte entschieden den Kopf. »Er wird eher flussabwärts nach uns suchen, wenn er nicht sowieso schon denkt, dass wir tot sind.«
Womit er haarscharf recht gehabt hätte, dachte sie makaber und stakste mit steifen Gliedern los.
6.
Eine erste Spur
Kalifornien, Mariposa, 03.09.2007, 07:51 Uhr
C arolin tastete im Halbschlaf nach der Decke. Wieso war es plötzlich so kalt?
Sie schlug die Augen auf. Einen Moment pendelte ihr Blick ratlos im Raum umher, dann funktionierte ihr Gedächtnis wieder. Sie war nicht mehr im Sudan. Sie war in den USA. Wegen Anja.
Carolin streckte sich nach ihrer Armbanduhr, die neben dem Bett auf einem kleinen Tischchen lag. Erst 06:43 Uhr.
Seufzend ließ sie sich wieder in die Kissen fallen. Gegen acht Uhr wollte sie dieser sture Idiot Neumeier abholen. Bei dem Gedanken an den Mann kochte sofort wieder unbändiger Jähzorn hoch.
Nach der gestrigen Auseinandersetzung hatten sie so wenige Worte miteinander gewechselt, dass man sie locker an einer Hand hätte abzählen können. Als sie dann spät abends in Mariposa angekommen waren, hatte er sie direkt zu ihrem Motel gefahren und sie mit dem Hinweis, er werde sie am nächsten Morgen zum Polizeirevier begleiten, frech stehen lassen.
Was bildete sich dieser unterbelichtete Beamtenpinkel eigentlich ein? Dass sie wie ein braves Fräulein stets nickend nach seiner Pfeife tanzte?
Das konnte er vergessen. Es würde ihm noch leidtun, wie er sich ihr gegenüber benommen hatte. Energisch strampelte sie die Decke von den Beinen und stapfte ins Bad.
Während das warme Wasser auf ihren Kopf prasselte, legte sie sich einen Schlachtplan zurecht, wie sie den hiesigen Behörden Feuer unter den Hintern machen konnte. Schließlich ging es hier um ein Menschenleben, nicht um den Besuch der Universal Studios.
Tief in Gedanken versunken dauerte es einen Moment, bis Carolin das Klopfen bemerkte. Wer kam auf die selbstmörderische Idee, um diese Uhrzeit an ihre Tür zu hämmern?
Sie wickelte sich in ein Badetuch und trocknete notdürftig die Haare. Als sie aus dem Bad trat, streifte ihr Blick die Digitalanzeige des Kaffeeautomaten, der zur Zimmerausstattung gehörte: 08:03 Uhr.
Sie blieb wie festgenagelt stehen. Das konnte nicht sein. Carolin sah noch einmal genauer hin.
Die roten Leuchtziffern zeigten 08:03 Uhr an. Auch sekundenlanges Anstarren änderte daran nichts. Doch. Jetzt war die Zahl auf 08:04 gesprungen.
Sie kehrte auf der Ferse um, stürzte zurück ins Bad und riss die Armbanduhr von der Ablage. Diese stand immer noch seelenruhig auf 06:43 Uhr.
Verdammter Mist!
Es klopfte erneut, dieses Mal ungeduldiger. Ihr Kopf fuhr herum. Sie sah zuerst auf die Tür, dann an sich hinunter und fluchte wenig damenhaft. Es gab keinen Zweifel, wer da gerade anklopfte.
Da Carolin sich noch nie für einen Feigling gehalten hatte, stapfte sie durch den Raum und öffnete schwungvoll die Tür.
Oliver Neumeier stand davor, noch immer die Hand erhoben. Als er ihren Aufzug bemerkte, klappte sein Kiefer herunter.
Ehe er sich wieder fangen konnte, stemmte sie die Hände in die Hüften. »Was glotzen Sie denn so? Noch nie eine Frau im Handtuch gesehen? Ich bin sofort
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