Wo immer Du bist, Darling
Ramon her. Er schritt in zügigem Tempo voran, fand sicher und zielstrebig einen Weg durch das ungastliche Gelände.
Eine gefühlte Ewigkeit lang wanderten sie durch einen Wald, der für sie immer gleich aussah. Wäre der Fluss rechts neben ihr nicht gewesen, sie hätte nicht zu sagen vermocht, in welche Richtung sie überhaupt steuerten. Langsam begann sie zu begreifen, wie weit das Wasser sie abgetrieben hatte.
Ramon sah sich in regelmäßigen Abständen nach ihr um, ging aber weiter und weiter, stetig leicht bergan, stromaufwärts den Flusslauf entlang.
Irgendwann wurde sie trotz ihrer verbissenen Versuche, sich die Erschöpfung nicht anmerken zu lassen, langsamer und begann leicht zu taumeln. Nichts wäre ihr lieber gewesen, als auf den Boden zu plumpsen, die Augen zu schließen und nie wieder aufzustehen, aber sie gab diesem verlockenden Wunschtraum nicht nach. Genau wie Ramon wusste sie, wie wichtig es war, schnellstmöglich zu ihrem Ausgangspunkt zu gelangen. Sie konnten sich keine Verzögerung leisten, wollten sie nicht noch nach Einbruch der Nacht ohne Ausrüstung durch den stockdunklen Wald laufen. Sie verspürte nicht das geringste Bedürfnis, herauszufinden, wie schnell man sich dabei verirren konnte.
Ramon kurvte um einen quer liegenden Baum. Ganz in Gedanken achtete Anja einen Moment nicht darauf, wohin sie ihren Fuß setzte und strauchelte prompt über eine Wurzel. Kopfschüttelnd konzentrierte sie sich wieder auf den Weg. Sie musste besser aufpassen, wollte sie dem ereignisreichen Tag nicht noch eine schmerzhafte Bekanntschaft mit dem Waldboden hinzufügen.
*
Je länger sie unterwegs waren, desto häufiger vergewisserte sich Ramon, dass Anja ihm weiterhin folgte. Falls sie vor Müdigkeit einfach umkippen würde, könnte er das neben dem rauschenden Wasser nicht hören. Jeder Meter, den er sich dann von ihr entfernte, erhöhte das Risiko, sie vielleicht nicht mehr wiederzufinden.
Er musste zugeben, dass es ihn beeindruckte, wie lange sie den anstrengenden Marsch nun schon durchhielt, ohne sich ein einziges Mal beklagt zu haben oder um eine Pause zu bitten.
Als sie zum dritten Mal stolperte, blieb er stehen. Sogar aus zwei Metern Entfernung konnte er erkennen, dass sie vor Anstrengung zitterte. »Schaffst du es noch?«, fragte er und ging zu ihr zurück. Er hatte dieses scharfe Tempo bewusst angeschlagen. Nur so konnte er verhindern, dass Anja den kalten Temperaturen entsprechend fror. Er war an die widrigsten Umstände gewöhnt – sie nicht. Die nassen Kleider mussten wie Pappe an ihr kleben und unbestreitbar hatte sie ihre physische Grenze längst erreicht.
»Ja.« Sie versuchte ein Lächeln.
Trotzdem konnte er die Erinnerung daran, wie haarscharf sie überlebt hatten, deutlich aus ihrer Miene lesen. Er unterdrückte den Reflex, nach ihr zu greifen, als sie sich erschöpft gegen einen Baumstumpf lehnte. Stattdessen drehte er das Handgelenk und prüfte seine Uhr. Es blieben noch ungefähr eineinhalb Stunden bis zum Sonnenuntergang. An der Entfernung zur Bergspitze schätzte er den restlichen Weg ab, dann wandte er sich wieder zu Anja um. »Wir können hier eine kurze Pause machen. Aber zieh deine Schuhe nicht aus.«
»Warum nicht?« Anja sah fragend zu ihm auf.
Vermutlich hatte sie gehofft, dadurch ihren malträtierten Füßen ein wenig Linderung zu verschaffen. Ramon zeigte auf ihre Beine. »Wenn du die Schuhe erst einmal ausgezogen hast, schwellen nach dem langen Marsch deine Füße an und dann wirst du Schwierigkeiten bekommen, sie wieder anzuziehen.«
*
Hastig nahm Anja die Finger von den Schnürsenkeln und richtete sich auf. Wenn Blasen an den Zehen noch das geringere Übel waren, würde sie wohl damit leben müssen.
Ein leichtes Ziehen begann in ihrer Wade. Sie beachtete es zuerst nicht, doch als sie das Bein anwinkelte, steigerte sich das Ziehen rasend schnell zu stechendem Schmerz. Sie schnappte nach Luft und bückte sich.
Sofort stand Ramon neben ihr. »Was ist los?«
»Krampf«, presste sie zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, während sie sich bereits abmühte, die Zehen anzuziehen. Leider half das rein gar nichts.
Ramon verfolgte ihre nutzlosen Versuche genau zwei Herzschläge lang, dann griff er unter ihre Knie, legte sie flach auf den Waldboden und überstreckte ihr Bein.
Sofort ebbte der Schmerz ab. Seine Finger kneteten sanft ihre Wade, bis sich die Verhärtung lockerte. Anja atmete erleichtert auf und lächelte ihn dankbar an. Bei Ramon war
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