Wo Licht im Wege steht
Lucille!«
Dann riß sie Lucilles Schlafzimmertür auf und blieb wie angewurzelt stehen. Lächelnd kam ich den Gang herab. »Nun, Rosalind«, sagte ich, »Sie sehen, es stimmt, was ich sagte - und ich hoffe, Sie werden mich bald besser kennenlernen.« Sie taumelte einen Schritt vorwärts ins Zimmer, und dann hörte ich ihren Schrei. Es war ein furchtbarer, schriller Schrei, ein Entsetzensschrei. »Hilfe! Hilfe! Polizei!« schrie sie laut. Die ganze Nachbarschaft mußte es hören.
Ich ging ein paar Schritte vorwärts, so daß ich hinter ihr stand und über ihre Schulter ins Zimmer sehen konnte. Lucille hatte den Morgenrock ausgezogen und auch das durchsichtige Unterkleidchen, das sie trug, als ich ins Zimmer kam. Um ihren Hals war ein Strumpf geschlungen. Sie lag ausgestreckt auf dem Boden und war tot. Man hatte sie mit einem ihrer Strümpfe erdrosselt. Ihr Gesicht sah entstellt und völlig verzerrt aus. Ihr graziöser Körper war so schön wie zuvor, aber es war kein Leben mehr in ihm.
»Polizei, Polizei!« schrie Rosalind außer sich.
Ich hörte eine Tür aufgehen und die Schritte eines Mannes über den Hof kommen. Rasch wandte ich mich um und lief den Korridor hinab, durch den Wohnraum, und von dort aus die Stufen zum Innenhof hinunter, hinaus in die Nacht. Ich brauchte Ruhe. Ich mußte mich von diesem Anblick erholen, und ich mußte nachdenken. Aber das konnte ich nicht in diesem Hause. Die Erlebnisse, die ich zu erzählen hatte, würde mir auch niemand geglaubt haben.
12
Das Ereignis war ein Leckerbissen für die Zeitungen. Und was sie nicht wußten, das erfanden sie einfach. Sie brachten die Sache in großer Aufmachung.
Hiernach hatte Lucille vor dem Spiegel gestanden, ganz damit beschäftigt, sich für ein Rendezvous schönzumachen. Es war eine warme, lauschige Nacht. Die französische Tür, die aus dem Schlafzimmer auf den Innenhof führte, stand offen. Da man von der Straße aus nicht in das Zimmer hineinsehen konnte, hatte das Mädchen auch die Fenstervorhänge zur Seite geschoben.
Ein Sexualverbrecher, vielleicht einer von jenen, die regelmäßig ihre nächtlichen Runden machen, um in die Schlafzimmer zu schauen, hatte das halbbekleidete Mädchen vom Innenhof aus durch das Fenster gesehen und beobachtet, wie es vor dem Spiegel stand.
Er war über den Hof gegangen, schnurstracks auf das Schlafzimmer zu. Dabei war er über ein frisch angelegtes Rasenstück gestolpert und bis zu den Knöcheln in der feuchten Erde eingesunken. Dann war er über die Zementplatten geradewegs auf die Veranda des Schlafzimmers zugeschritten. Auf dem Zement fand man die Spuren seiner mit Erde beschmutzten Schuhe.
Plötzlich hatte Lucille sich anscheinend beobachtet gefühlt und den Versuch gemacht, sich umzudrehen. Aber es war zu spät.
Einer ihrer Strümpfe wurde ihr über den Kopf geworfen, dann um den Hals gewunden und verschlungen; mit dem Knie hatte ihr der brutale Verbrecher einen Stoß in den Rücken versetzt. Sie hatte zu schreien versucht, aber sie war nicht mehr imstande gewesen, auch nur einen Ton herauszubringen. Der Strumpf hatte den Hals enger und enger umspannt, fester und fester. Ihr Widerstand war ein hoffnungsloser, schwacher Versuch geblieben.
Erstickend hatte sie noch versucht, sich mit Armen und Beinen zu wehren, aber das Knie in ihrem Rücken hatte sie unbarmherzig und grausam zu Boden gezwungen. Nach einigen Zuckungen war sie still geworden.
Es war die Stille des Todes.
Und dann hatte der Mörder sie auf den Rücken gelegt und sie geküßt. Die Spuren des verschmierten Lippenstiftes auf ihrem Mund erzählten die Geschichte von diesem letzten Kuß.
Es war der Todeskuß.
Kein Wunder, daß die Tratsch- und Sensationsblätter dieses stets willkommene Thema weitestgehend ausschlachteten. Sie brachten nicht nur Bilder von der lebenden Lucille, sondern auch von ihrem toten Körper, der ausgestreckt und nur wenig bekleidet am Boden lag.
Über den Mörder wußten sie auch einiges zu sagen:
Der Bandit war dann noch weiter in das nächste Zimmer gegangen, und zwar in das Schlafzimmer der Schwester. Anscheinend hatte er noch ein zweites Opfer gesucht und wollte dort warten, bis die jüngere Schwester zu Bett gehen würde.
Während er es sich dort in einem Sessel bequem gemacht hatte, vergaß er seine Umwelt über der Lektüre eines Romans.
Also ein Verbrecher mit literarischem Einschlag!
War dieser Mensch nicht eine ganz außergewöhnliche Bestie? Das Buch gehörte zu den Lieblingsbüchern der
Weitere Kostenlose Bücher