Wo mein Herz wohnt: Mittsommergeheimnis (German Edition)
kein Verständnis für ein derartiges Handeln aufbringen. “Aber wir hätten euch Linus doch niemals vorenthalten”, stieß sie mit tränenerstickter Stimme hervor. “Ihr hättet ihn sehen können, wann immer ihr wolltet.”
“Wie dem auch sei”, wandte Sander ein. “Im Moment gibt es wichtigere Dinge, um die wir uns kümmern sollten.” Er fixierte Mats und Sybilla fest. “Was genau ist passiert? Und wo habt ihr Linus zum letzten Mal gesehen?”
Mats sagte es ihm.
“Na dann, nichts wie los. Ihr fahrt voraus, wir folgen euch in unserem Wagen.”
Wenige Minuten später fuhren die beiden Fahrzeuge hintereinander über den schmalen Zufahrtsweg. Nachdem Finja die Polizei über die neuesten Entwicklungen informiert hatte, ließ sie ihr Handy in den Schoß sinken.
“Ich habe schreckliche Angst”, sagte sie. “Was, wenn Linus irgendetwas passiert ist? Ich würde meines Lebens nicht mehr froh werden, wenn …”
“Nein”, fiel Sander ihr ins Wort und legte ihr eine Hand aufs Bein. “Sag so etwas nicht, hörst du? Ich lasse nicht zu, dass ihm irgendetwas geschieht.”
Finja wusste nicht, wie er das mit Sicherheit behaupten konnte – fest stand nur, dass sie ihm glaubte. Und sie spürte, dass Sander sich mindestens ebenso sehr um Linus sorgte wie sie selbst.
Zum ersten Mal seit ihrem schrecklichen Streit vor zwei Tagen fühlte sie so etwas wie eine Verbundenheit mit ihrem Ehemann. Und sie fragte sich, ob vielleicht doch noch nicht alles verloren war …
Es fing bereits an zu dämmern, als Linus das Boot fand.
Er wusste nicht, wie lange er orientierungslos im Wald herumgelaufen war, ehe er irgendwann das Ufer eines Sees erreicht hatte. Auf der anderen Seite glaubte er die Umrisse einer Siedlung zu erkennen, und das bedeutete, dass dort drüben Menschen waren. Leute, die ihm bestimmt helfen konnten, wieder nach Hause zu seiner Tante und seinem Onkel zu kommen.
Das Boot dümpelte im flachen Wasser direkt am Ufer.
Es sah ziemlich alt aus und verfügte nur noch über ein Ruder, doch dem Fünfjährigen kam es vor wie ein Geschenk des Himmels. Ohne lange darüber nachzudenken, schob er es ins tiefere Wasser, sodass es frei schwimmen konnte, und kletterte an Bord. Durch ein kleines Loch im Boden des Bootes drang Wasser ein, doch es stand nur wenige Zentimeter hoch und bereitete Linus keine Schwierigkeiten.
Er fing an, das Ruder durchs Wasser zu bewegen. Genauso hatte es sein
Pappa
auch immer gemacht.
Als Linus nach über fünf Minuten zurückblickte, musste er erkennen, dass er sich kaum mehr als fünfzig Meter vom Ufer entfernt hatte. Dafür reichte das Wasser im Boot ihm jetzt bereits bis über die Waden. Er würde es damit niemals bis auf die andere Seite schaffen.
Linus’ Herz hämmerte aufgeregt, doch noch gelang es ihm, die aufsteigende Panik niederzukämpfen. Er wusste, dass es eine dumme Idee gewesen war, das Boot zu nehmen – doch nun war es zu spät, um daran noch etwas zu ändern.
Er musste zurück, und zwar schnell, ehe das Boot zur Gänze volllief. Hastig stieß er das Ruder ins Wasser, doch er hatte das Gefühl, überhaupt nicht voranzukommen. Seine Arme waren doch viel kürzer als
Pappas
. Und dann trieb plötzlich ein Ast an ihm vorbei und schlug ihm das Ruder aus der Hand.
Verzweifelt schrie Linus auf, lehnte sich über den Rand des Bootes und versuchte, das Ruder noch mit den Fingerspitzen zu erreichen. Als er spürte, dass er das Gleichgewicht nicht mehr halten konnte, war es zu spät, um noch etwas zu tun.
Mit einem erstickten Aufschrei stürzte Linus ins eiskalte Wasser.
“Linus!”
Finja und Sander durchstreiften nun schon seit mehr als einer Stunde auf der Suche nach Linus den Wald hinter der Tankstelle. Jetzt wurde es langsam dunkel, und Finja fürchtete bereits, dass dem Jungen eine Nacht allein im dunklen Wald bevorstand.
Immer wieder musste sie an Audrey denken. Auch die junge Engländerin war vor fünfzehn Jahren im Wald verschwunden – und niemand hatte sie je wieder gesehen. Die Bilder von damals schienen Finja zu verfolgen. Sie sah die Suchtrupps, die vielen Lichter, die die Nacht erhellten, die Panik auf den Gesichtern der Erwachsenen … Sie sah Linnea, Hanna und auch sich selbst, vor Angst wie erstarrt …
Sie versuchte die Furcht davor, dass die Vergangenheit sich womöglich wiederholen würde, zu verdrängen. Doch wirklich gelingen wollte ihr das nicht.
Da vernahmen sie plötzlich einen schrillen Angstschrei ganz in der Nähe.
“Linus!”
Sie liefen los
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