Wo mein Herz wohnt: Mittsommergeheimnis (German Edition)
allein im Wagen. Seit er vier Jahre alt gewesen war, wusste er, wie man einen Sicherheitsgurt öffnete, und so brauchte er nur ein paar Minuten, ehe er sich aus seinem Kindersitz befreit hatte. Auf allen vieren kroch er über die Rückbank auf die andere Seite, von wo aus
Farfar
, der gerade an der Kasse bezahlte, ihn nicht sehen konnte. Vorsichtig öffnete Linus die Tür und rutschte durch den schmalen Spalt ins Freie.
Geschafft. Aufmerksam blickte Linus sich um. Er hatte keine Ahnung, wo er sich genau befand, aber das interessierte ihn auch im Moment nicht. Irgendwie würde es ihm schon gelingen, nach Hause zu kommen. Vielleicht, wenn er durch den Wald ging …?
Er wollte sich gerade vom Wagen wegschleichen, als er plötzlich
Farmors
Stimme hörte, die aufgeregt rief: “Mats, pass auf – der Junge!”
Jetzt wusste Linus, dass er entdeckt worden war, also fing er an zu laufen, so schnell ihn seine kurzen Beine trugen. Und er hielt erst an, als er den Waldrand längst hinter sich gelassen hatte.
Von
Farfar
und
Farmor
war keine Spur mehr zu sehen, und auch ihre Rufe waren hinter ihm zurückgeblieben. Nach Luft ringend stützte Linus die Hände auf die Oberschenkel. Als er wieder einigermaßen durchatmen konnte, blickte er sich um, und ein beklommenes Gefühl stieg in ihm auf.
Es war ganz schön dunkel hier im Wald. Die Sonne war nur als verschwommener Fleck durch die dichten Kronen der Tannen hindurch zu sehen, und überall knackte und raschelte es.
Wieder fing Linus an zu laufen. Er wollte zurück zur Straße, denn hier zwischen den Bäumen war es ihm zu unheimlich, doch der Wald schien einfach kein Ende zu nehmen. Etwa nach einer halben Stunde musste er sich eingestehen, dass er sich verirrt hatte, und Tränen traten ihm in die Augen.
Als gegen vier Uhr der silberne Volvo der Bjorkmans vor dem Haus vorfuhr, ahnte Finja sofort, dass irgendetwas Schreckliches passiert sein musste. Sander und sie hatten inzwischen mit dem Wachtmeister im Ort gesprochen, der versprach, die Augen nach Linus und seinen Großeltern offen zu halten. Auch seine Kollegen in der Umgebung waren bereits informiert. Insgeheim hatte Finja befürchtet, dass Mats und Sybilla mit dem Kleinen längst über die Grenze nach Norwegen entkommen waren und von dort aus irgendwohin fuhren, wo Sander und sie sie niemals finden würden.
Diese Befürchtung erwies sich nun als unbegründet. Eigentlich hätte Finja erleichtert sein sollen – doch so war es nicht. Eilig lief sie nach unten zur Tür und fing die Bjorkmans ab, noch ehe sie ihren Wagen verlassen konnten.
“Wo ist er?”, rief sie aufgebracht. “Wo ist Linus?”
Sander, der die Ankunft von Linus’ Großeltern ebenfalls bemerkt hatte, trat hinter sie und legte ihr eine Hand auf die Schulter, um sie zu beruhigen. Diese Geste war tröstlich und schmerzvoll zugleich, sodass Finja ein Aufstöhnen unterdrücken musste.
“Er ist nicht mehr bei uns”, antwortete Sybilla und fasste damit in Worte, was Finja bereits befürchtet hatte. Die ältere Frau fing an zu schluchzen, und auch ihr Mann sah am Boden zerstört aus. “Wir haben uns doch nur gewünscht, dass er bei uns aufwächst. Linus ist doch das Letzte, was wir auf der Welt noch haben! Dass so etwas passiert, haben wir nicht gewollt, Finja, das müsst ihr uns glauben!”
“Und das Treuhandvermögen, das zu Linus’ Gunsten eingerichtet wurde, spielte dabei überhaupt keine Rolle?”, hakte Sander nach. “Ihr braucht es gar nicht abzustreiten, ich weiß von den finanziellen Schwierigkeiten, in denen ihr steckt. Das Geld des Jungen muss euch wie ein Geschenk des Himmels erschienen sein!”
“Nein!”, protestierte Sybilla sogleich. “Ich gebe ja zu, dass uns der Gedanke ebenfalls kurz gekommen ist, aber das war nicht unser Antrieb, um Linus zu kämpfen. Wir hatten gerade unseren Sohn verloren, und wir wollten unseren einzigen Enkel nicht auch noch verlieren. Ja, wir haben große finanzielle Schwierigkeiten. Mein Mann hat sich da in etwas verstrickt, und wir haben nach Auswegen gesucht. Doch inzwischen wissen wir, dass es keinen Ausweg gibt. Wir werden uns der Sache stellen müssen.” Sie schluchzte auf. “Und es ist ja ohnehin alles egal. Was immer wir auch tun – nichts wird uns unseren Sohn zurückbringen.”
Finja atmete tief durch, und eine Woge des Mitgefühls überrollte sie. Sie konnte sich nur zu gut vorstellen, wie schlimm der Verlust für die beiden sein musste. Gleichzeitig konnte sie, sosehr sie sich auch bemühte,
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