Wo niemand dich findet
kleiner Trip nach Portland«, nahm Alex den Faden auf, während sie Sirup über ihre Pfannkuchen goss. »Können wir davon ausgehen, dass er da nach Melanie gesucht hat?«
Die Narbe über ihrer Oberlippe bewegte sich beim Sprechen, und Nathan betrachtete sie wie immer mit einem unguten Gefühl. Die Vorstellung, wie sie verletzt und gefesselt in ihrem Büro lag, bereitete ihm jedes Mal auch körperlich Unbehagen.
»Nathan?«
»Ich gehe nie von Vermutungen aus. Ich muss das überprüfen.«
»Kurz nach Melanies Verschwinden habe ich auch im Norden Kaliforniens mit ihrer Karte Geld abheben lassen.«
»Wie ging das denn?«
»Mit Freunden, die dort leben«, erläuterte sie. »Ich
habe mehreren Melanies Bankkarte geschickt und sie gebeten, etwas abzuheben und mir danach die Karte zurückzuschicken. Dafür durften sie das Geld behalten und auf Melanies Kosten essen gehen oder so. Ich wollte den Anschein erwecken, als wäre Melanie unterwegs und suchte nach einem Plätzchen, um sich niederzulassen.«
Während sie einen Schluck Orangensaft trank, sah Nathan sie nachdenklich an und fragte sich, wo sie ihre Tricks gelernt hatte. Sie hatte eine Marktlücke aufgetan, eine Art privates Zeugenschutzprogramm. Und trotz zahlreicher Schwierigkeiten schien sie für alles eine Lösung parat zu haben.
»Ist Coghan auch nach Kalifornien gereist?«, wollte sie wissen. »Hat er womöglich ein Auto gemietet oder abgegeben?«
»Hm, keine Ahnung. Aber wie gesagt, ich bin noch nicht allzu tief in die Sache eingestiegen.«
»Lass mich wissen, wenn du was rausfindest.«
»Warum übernimmst du eigentlich immer so schwierige Frauen?«
»Was meinst du damit?«
»Na ja, ich frage mich, warum du so schwierige Aufträge annimmst, wenn das Geschäft gut läuft? Die sind gefährlich, und lohnen werden sie sich vermutlich auch nicht.«
Sie zuckte die Achseln. »Profit ist nicht alles.«
»Ich dachte, du bist Geschäftsfrau?«
»Bin ich. Mit den Versicherungen verdiene ich genug.«
Er blickte ihr in die Augen. Wie viel an dieser Haltung
war Pose, wie viel echt empfunden? Schließlich schüttelte er den Kopf. »Du bist mir ein Rätsel.«
Sie beugte sich zu ihm. Ihre Augen funkelten. Offenbar hatte er einen Nerv getroffen.
»Jetzt lass mich dich mal was fragen«, begann sie. »Wenn du an einen Tatort kommst und das Mordopfer ist eine Frau, gegen wen richtet sich dein erster Verdacht?«
»Ihren Ehemann oder Freund.«
Sie nickte. »Wenn sie außerdem unter häuslicher Gewalt zu leiden hatte, dann ist die Wahrscheinlichkeit doch nochmals größer, dass er sie umgebracht hat. Manche Frauen versuchen, sich aus einer solchen Beziehung zu lösen, aber genau in der Phase sind sie am meisten gefährdet. Diese Scheißkerle finden es nämlich überhaupt nicht gut, wenn sie verlassen werden.«
»Also gehst du dazwischen. Ist dir eigentlich klar, wie leichtsinnig das ist?«
»Nicht leichtsinnig«, widersprach sie. »Ich wäge das Risiko genau ab. Wenn meine Mandantinnen meinem Rat folgen, kommen sie heil raus.«
»Was ist dann mit Melanie passiert?«
Sie senkte den Blick. »Ich weiß es nicht. Ich dachte, sie wüsste, wie gefährlich es ist, hierher zurückzukommen. Keine Ahnung, warum sie das getan hat.«
»Wie erfahren diese Frauen von dir?«
Sie steckte sich eine Gabel Pfannkuchen in den Mund. Kaute nachdenklich. Spülte ihn mit einem Schluck Saft hinunter. »Hm, kommt ganz drauf an.«
»Was heißt das?«
»Courtney kam auf Empfehlung. Die Freundin einer Freundin. Manche kommen auch über ein Frauenhaus,
glaub ich. Ich bin mir ziemlich sicher, dass jemand in einem Frauenhaus in der Stadt meine Nummer hat.«
Na prima. Jemand schickte die Frauen zu Alex. Damit erhielt sie deren Probleme frei Haus.
»Kam Melanie auch über ein Frauenhaus?«
»Sie war nie in einem«, sagte Alex. »Sie hatte zu viel Angst.«
Nathan schwieg. Er war nicht überzeugt, dass Angst Melanie daran gehindert hatte, in ein Frauenhaus zu gehen. Coghans Frau war ihm etwas suspekt. Für seinen Geschmack hatte Alex ihrer Geschichte viel zu schnell geglaubt. Nathan war klar, dass seine Vorbehalte zum Teil daher rührten, dass er Coghan kannte. Aber auch die Erfahrung sprach dagegen. Sie hatte ihn gelehrt, dass solche Angelegenheiten meist viel komplizierter waren, als sie zunächst schienen. Und Menschen – insbesondere verzweifelte Menschen – logen bisweilen das Blaue vom Himmel herunter.
»Die Pfannkuchen sind echt super.« Alex äugte auf seinen Teller. »Isst du
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