Wo niemand dich findet
nicht, was mir alles passiert ist.«
»Versuch’s doch erst mal.«
»Mein Leben war ein einziger Irrsinn, in jeder Minute.« Sie fuhr sich mit dem Ärmel ihres weiten grauen Sweatshirts über die Nase. »Ich hatte solche Angst …«
»Ich nehme an, du hast meinen Rat hinsichtlich schwarz vergessen«, meinte Alex.
»Hä?«
»Ihr Blonden, immer färbt ihr euch das Haar schwarz. Oder rot. Ich hab dir doch gesagt, dass das viel zu auffällig ist. Wenn du keine Aufmerksamkeit auf dich ziehen willst, dann nimm braun.«
Melanie runzelte die Stirn.
Nicht nur ihr Haar sah schrecklich aus. Sie hatte außerdem
ordentlich zugenommen, und es hatte den Anschein, dass sie schon seit Wochen nicht mehr an der frischen Luft gewesen war. Alex fragte sich, wie lange sie wohl schon ihr Versteck im sonnigen Florida verlassen hatte. Strom, Wasser und Gas waren vor ein paar Wochen abgestellt worden, aber sie konnte schon lange vorher abgehauen sein.
Alex stand auf und ging um den Tisch herum zu ihrem Computer. Sie spürte Melanies überraschten Blick auf sich, als sie ihn hochfuhr.
»Möchtest du … willst du denn nicht wissen, was passiert ist?«
Alex startete ihre Buchhaltungssoftware. »Aber sicher doch. Schieß los.«
»Na ja … ich bin vor ein paar Monaten zurück nach Austin gekommen. Ich schätze, das weißt du.«
»Ja, das hab ich rausbekommen.«
»Gewohnt hab ich in diesem Haus am See.«
»Auch das hab ich rausgekriegt.« Alex klickte die Datei an, die sie gesucht hatte. »Du schuldest mir übrigens zweitausendachthundert Dollar.«
»Was?«
»Das sind achthundert Dollar für meine Arbeitszeit, und zwar zu dem rabattierten Stundensatz, den du von mir bekommen hast. Dazu kommen meine Auslagen für dich in Orlando. Und natürlich die Kaution für deine Wohnung. Wie stehen denn die Aussichten, dass ich in nächster Zeit mein Geld bekomme?«
Melanie sank in sich zusammen. »Schlecht.«
»Dacht’ ich mir.«
Alex beendete das Buchhaltungsprogramm wieder
und drehte sich mit verschränkten Armen zu Melanie. »Warum hast du mich nicht angerufen?«
»Ich … ich …«
»Wir hatten doch was ausgemacht, oder? Wenn ich dir eine dringende Nachricht schicke, meldest du dich. Und wenn du mir eine schickst, melde ich mich. Darüber waren wir uns einig.«
»Ich hab mein Telefon verloren.«
»Dann hättest du zu einer Telefonzelle gehen können. Oder in ein Internetcafé. Irgendwas. Hast du eigentlich eine Ahnung, was für Sorgen ich mir gemacht habe? Und wie viel Zeit ich damit zugebracht habe, dich zu suchen?«
Melanie sah sie mit weit aufgerissenen Augen an.
Alex presste die Lippen aufeinander und schluckte all die Vorwürfe und Beleidigungen, die sie ihr an den Kopf werfen wollte, herunter. Melanie sah wirklich fertig aus. Was sie in letzter Zeit auch getan haben mochte, gut hatte es ihr nicht getan.
Alex betrachtete sie argwöhnisch. »Nimmst du Drogen?«
»Ich?« Melanie legte eine Hand auf ihre Brust. Die Nägel waren bis auf das Fleisch abgeknabbert. »Ich rühre keine Drogen an. Ich trinke nicht mal.«
»Du siehst furchtbar aus.«
Melanie senkte den Blick. »Ich weiß.« Sie ballte die Fäuste so, dass die Knöchel weiß hervortraten. Eine Träne tropfte ihr auf den Schenkel und hinterließ einen dunkelgrauen Fleck auf der Jogginghose.
Alex schloss die Augen und legte den Kopf in den Nacken. Noch einmal würde sie sich nicht einlullen lassen.
Sie durfte nicht länger Mitleid mit dieser Frau haben. Sie atmete tief ein.
»Letzten Oktober hast du mich angelogen.«
»Ich weiß.« Melanies Antwort war leise, kaum mehr als ein Flüstern.
»Warum hast du das getan? Ich wollte dir doch helfen.«
»Ich hätte nicht gedacht, dass du das tun würdest. Nicht wenn du gewusst hättest, was wirklich los ist.«
»Und was ist wirklich los, Melanie?«
Melanie verkrampfte. Sie beugte sich vor und schniefte.
»Ich kann dir nicht helfen, wenn du mir nicht die Wahrheit sagst, Mel. Das hatten wir schon, und es hat nicht funktioniert.«
Die andere nickte, den Kopf noch immer vornüber gebeugt.
»Du musst mir alles erzählen. Ganz von Anfang an.«
Melanie sah auf. Tränen standen in ihren Augen. »Er ist tot, oder?«
»Wer ist er ?«
»Craig hat ihn umgebracht. Ich weiß es.«
»Wen?«
»Joe.« Sie unterdrückte ein Schluchzen. »Er hat Joe umgebracht.«
Alex sah, wie Melanie auf ihren Schoß starrte, während sie mit ihren Gefühlen kämpfte. Als sie den Kopf wieder hob, stand ihr die Frage ins blasse Gesicht
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