Wo Tiger zu Hause sind
Augenblick – vergessen hatte, dass eine Beziehung zu ihm unmöglich war.
»Ich muss betrunkener sein, als ich dachte, um so etwas zu sagen«, lachte sie peinlich berührt.
»Sie haben weniger getrunken als ich, keine Sorge.« Gräfin Carlotta nahm ihre Hand. »Das ist das Gute am Champagner, er löst die Zunge, zumindest befreit er sie von den Fesseln der Konventionen. Sie gefallen mir, Sie beide, Sie würden ein schönes Paar abgeben …«
Fast mit den Bougainvilleen verschmelzend, wirkte die Frau des Gouverneurs wie eine heidnische Gottheit, eine ruhig-nachdenkliche Pythia, deren Worte die Kraft einer Vorhersage zu erhalten schienen. Sie muss einmal sehr schön gewesen sein, dachte Loredana und musterte den Schnitt ihres Gesichts.
»Wenn Sie wüssten, wie müde ich bin«, sagte die Gräfin unvermittelt und tief verzweifelt. »Alles widert mich nur noch an. Ich kenne Sie erst seit vorhin, so ein Geständnis macht man nur unter dem doppelten Einfluss des Alkohols und einer besonderen Begegnung. Mein Mann liebt mich nicht mehr, oder jedenfalls nicht mehr genug, als dass ich ihn nicht hassen müsste, mein Sohn ist weit weg, und ich werde alt …« Sie lächelte verdrossen. »Ich komme mir vor wie eine unnütze Ziervase auf einer Kommode.«
Solange wir die Verzweiflung anderer nur ahnen, sind wir gerührt, wenn dieses Gefühl auch meist nur zu einem allgemeinen Mitleid führt; wird sie uns schamlos unter die Nase gerieben, erregt das eher spontane Ablehnung. »Wie selbstmitleidig!«, dachte Loredana. »Warum lässt sie sich so gehen!« Was war die Verbitterung einer Großbürgerin gegen die Drohung, mit der sie selbst seit Monaten lebte? Musste man die Möglichkeit der Freiheit erst ganz verlieren, um ihren Wert schätzen zu können, um den Wert der schlichten Tatsache zu erkennen, dass man lebt, dass es einen überhaupt noch gibt?
Nervös zündete sie sich eine Zigarette an und hoffte, damit das Schweigen zwischen ihnen eher zu verlängern, als einen Dialog weiterzuführen, der sie nicht mehr interessierte.
Aber dann gelang es Carlotta wieder, ihren Blick einzufangen:
»Bitte missverstehen Sie mich nicht«, sagte sie liebenswürdig. »Ich bin nicht auf Ihr Mitleid aus. Hätten Sie auch nur ein Tönchen in dieser Richtung gesagt, ich wäre sofort gegangen … Jeder muss allein zurechtkommen, dessen bin ich mir ganz und gar bewusst.«
»Was wollen Sie dann?«, unterbrach Loredana sie recht trocken.
Mit einem Lächeln auf den Lippen ließ die Gräfin einen langen Seufzer voller Milde und mütterlicher Geduld hören:
»Sagen wir mal, Italienisch-Unterricht? … Wäre Ihnen das recht?« Doch ihr flehentlicher Blick zieh sie Lügen, er sagte: »Unterricht in Arglosigkeit … in Offenheit und Selbständigkeit … kurz, in Jugendfrische, mein Kind.«
12 . Kapitel
Welches vom Kircher-Museum und vom magnetischen Orakel handelt.
K ircher nahm seine Studien wieder auf & unterbrach sie nur, um die Besucher zu empfangen, die ihm neue Kuriositäten aus dem Stein-, Pflanzen- oder Tierreich brachten, denn es war bekannt, dass er derlei sammelte. So vergrößerte er ganz erheblich seine Sammlung an anamorphischen Gesteinen, denn man brachte ihm allerlei Steine oder Minerale, in denen die Natur in eigener Person manche leicht erkennbare Formen eingegraben hatte: Hunde, Katzen, Pferde, Widder, Eulen, Störche & Schlangen, aber auch Männer und Frauen waren vollkommen erkennbar & manchmal sogar ganze Städte in allen Einzelheiten, mit ihren bekannten Kathedralen & Kirchtürmen. Ebenso befanden sich in manchen Ast- oder Stammabschnitten von Bäumen ohne jedes künstliche Zutun großartig eingeschnitzte Wahrzeichen & Porträts, bis hin zu mehreren Szenen, die sämtliche Fabeln des Äsop bebilderten! Das in Kirchers Augen wertvollste Fundstück dürfte eine Serie von ein & zwanzig Feuersteinen gewesen sein, in denen, höchst deutlich von der inneren Struktur der Steine herausgebildet, jeder einzelne Buchstabe des hebräischen Alphabets zu sehen war.
»Die einzige Sprache«, sagte Kircher, »die Erinnerung an jene Ursprache, die Gott dem Adam gegeben, mit ihrer wunderbaren Beschreibungskraft & den tausend & einen Geheimnissen ihrer numerischen Struktur … Ebendies schenken uns die schäbigsten Steine vom Wegesrande! In seiner göttlichen Güte gibt uns der Schöpfer in den Dingen selbst das Mittel in die Hand, zu ihm zu gelangen; denn unermüdlich spinnt die Natur jenen symbolischen Ariadnefaden, der uns
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