Wo Tiger zu Hause sind
attraktiv gewesen wäre – da übertraf Alfredo ihn bei weitem –, aber an seinem Blick und seiner Art, sich zu bewegen, hatte sie eine ungewöhnliche »Tiefe« wahrgenommen, ein Begriff, der nach ihren Kriterien entschied, in welchem Maße ein Mensch Aufmerksamkeit verdiente. Zwar war sie für die physische Anziehung einer Person, ob Mann, ob Frau, durchaus auch empfänglich, doch kam das erst lange nach einer gewissen Ausstrahlung oder zumindest deren Möglichkeit, die auf den ersten Blick erkennen zu können sie sich schmeichelte.
Jetzt saß sie zwei Tische von Eléazard entfernt und so, dass sie ihn in aller Ruhe im Profil mustern konnte: Lebensvolle vierzig, schwarzes, nur an den Schläfen ganz leicht silbriges Haar, dessen hoher Ansatz über der Stirn jedoch künftige böse Überraschungen verhieß, und was vor allem frappierte, das war seine Nase – der reinste Adlerschnabel, übrigens nicht regelrecht hässlich, aber einer, wie sie ihn allenfalls beim Condottiere de Verrocchio in Venedig gesehen hatte. Ansonsten präsentierte dieser wenn auch nicht gerade feingliedrige Gast keine weiteren kriegerischen Merkmale. Er wirkte nur einfach selbstsicher und von einer strengen, respekteinflößenden Intelligenz. Dante, von Gustave Doré gesehen – falls man denn einen künstlerischen Vergleich suchte. Nicht ausgeschlossen übrigens, dass er Italiener war: Loredana sprach schlecht Portugiesisch, aber immerhin genug, um einen gewissen ausländischen Akzent herauszuhören, als er mit Alfredo plauderte.
Auf einmal doch irritiert durch diesen beharrlichen Blick, den er auf sich spürte, drehte sich Eléazard zu ihr hin und prostete ihr stumm zu, bevor er das Glas an die Lippen führte. Diesmal konnte Loredana nicht umhin zu lächeln, doch nur als Entschuldigung für ihr Starren.
Alfredo hatte eben aufgetragen, da ging das Licht aus. Nachdem er ein paar Kerzen angezündet hatte, setzte sich der Wirt wieder zu Eléazard und entkorkte eine weitere Flasche. Diesen Moment wählten die Mücken für ihren Angriff: Als gäbe es eine Verbindung zwischen ihrem Auftauchen und dem Stromausfall, eroberten sie den Innenhof in unsichtbaren Schwaden und fielen über die Essenden her. Eléazard irritierte das, denn er litt sehr unter den Stichen.
»
Pernilongos
«, sagte Alfredo, der sah, dass Eléazard eines der Insekten an seinem Hals zerdrückte. »Mir machen die nichts aus, aber ich hole trotzdem mal eine Mückenspirale. Scheint ja zu helfen.«
Eléazard dankte ihm für die Aufmerksamkeit. Während Alfredo im Haus verschwand, warf er einen Blick zum Nachbartisch. Vorausschauender als er, hatte Loredana bereits ein Fläschchen mit Mückenmittel hervorgeholt und rieb sich sorgfältig Arme und Beine ein. Sie begegnete Eléazards Blick, bot ihm das Fläschchen an und brachte es ihm dann hinüber.
»Ich habe es in Italien gekauft«, sagte sie, »es wirkt Wunder, riecht aber wirklich übel.«
»Sie können gern Italienisch reden«, sagte Eléazard mit seiner schönsten Aussprache, »das kann ich auch besser als Portugiesisch. Und danke nochmals, die waren schon dabei, mich aufzufressen.«
»Sie sprechen Italienisch?«, staunte sie. »Das hätte ich nicht erwartet. Und das als Franzose …«
»Woher wissen Sie das?«
»Ich höre einem Ausländer immer an, woher er kommt, auch wenn sein Italienisch so gut ist wie Ihres. Wo haben Sie es gelernt?«
»Ich habe eine Zeitlang in Rom gelebt. Aber bitte, setzen Sie sich doch«, und er stand auf, um einen Stuhl heranzuziehen. »Dann plaudert es sich bequemer.«
»Warum nicht«, antwortete sie nach einen kurzen gespielten Zögern. »Sekunde, ich hole mein Glas und meinen Teller.«
Loredana saß noch nicht, da kam Alfredo mit der Mückenspirale. Er stellte sie angezündet auf ein Schüsselchen und setzte sich rasch zu ihnen. Eléazard fiel auf, wie sehr er sich darüber freute, die Italienerin an seinem Tisch zu sehen. Diese hingegen wirkte verärgert, dass er sich in die Präliminiarien ihrer Bekanntschaft einmischte. Kurz ging es ihm genauso: Alfredo war jetzt einer zu viel. ›Wie menschlich‹, dachte er, ›drei Worte mit einer Fremden, und schon ist derjenige, wegen dessen Gesellschaft er überhaupt hergekommen war, ein Störenfried.‹ Schuldbewusst beschloss er, gute Miene zum bösen Spiel zu machen.
»Ich darf mich vorstellen: Eléazard von Wogau«, sagte er zu Loredana. »Ich glaube, wir sollten jetzt wieder die uns dreien gemeinsame Sprache
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