Wo Tiger zu Hause sind
›Soll die Lepra der Zeit ruhig ihre Arbeit verrichten‹, dachte Eléazard, ›soll sie dieses Zeugnis der menschlichen Barbarei getrost ganz und gar häuten.‹
Als er die Rua Silva Maia erreichte, ließ er den Blick auf der Igreja do Rosario verweilen. Weiß und grün stand die Kirche zum Heiligen Rosenkranz vorm bleiernen Himmel mitten auf einem dem Dschungel abgerungenen Gelände – das aber, da ungepflastert geblieben, wieder von wild sprießendem Kraut erobert wurde – und schien alle Feuchte des Bodens aufsaugen zu wollen, wie die ockerroten Spuren verrieten, die die Fassade bis auf halbe Höhe befleckten. Mit verrammelten Fensterläden und blindem Frontgiebel strahlte sie Angst und Verlassenheit aus. Hinter ihr waberte schwer wie ein Pelz ein Mangohain, das wogende Laub von raschelnden Schaudern durchlaufen.
Eléazard stieß die Tür des Hotels Caravela auf –
Hygiene und Komfort. Sieben gut möblierte Zimmer
– und brachte so die von der Decke hängenden Bambusrohre zum Klappern. Sofort kam mit ausgebreiteten Armen ein junger Kreole auf ihn zu, ein großes, freudiges Lächeln im Gesicht.
»Lazardinho! Welch schöne Überraschung …
Tudo bem?
«
»Tudo bom.«
Diese rituellen Begrüßungsworte sprach Eléazard immer voll Genuss aus. Ihre besänftigende Magie schien die Welt stets freundlicher zu machen.
»Also, was gibt es Neues?«, fragte Alfredo nach einer herzlichen Umarmung. »Wenn du zum Essen bleibst, wir haben knackfrische Gambas. Hab ich selbst am Boot geholt.«
»Schon überredet!«
»Dann setz dich, ich sage Socorró Bescheid.«
Eléazard trat in den Innenhof. Das Restaurant bestand aus ein paar Tischen unter dem breiten Verandadach. Drei riesige Bananenstauden und ein Gesträuch ihm unbekannten Namens verbargen in diesem Patio die Treppen zum Obergeschoss. Eine nackte Glühbirne warf bereits einen gelben Lichtschein auf die schmucklose Szenerie.
Als er saß, überflog Eléazard kurz die maschinengeschriebene Speisekarte, die auf dem Tisch lag und seit Monaten schlicht so lautete:
Filé de pescada, Camarão empanado,
Peixadas, Tortas, Saladas.
Preço p/pessoa: O melhor possível …
AVOR FAZER RESERVA
Dieser Minimalismus entsprach ganz und gar Alfredos persönlichem Charme. Dreimal Fisch oder Garnelen, Quiches, Salate. Und auch deren Plural war eine gnädige Übertreibung, denn außer an besonderen Tagen – daher die Bitte um
Reserva
– gab es für alle und jeden nur das Gericht des Tages, mit anderen Worten das, was auch Alfredo und Eunice, seine junge Frau, für sich selbst zubereiteten. Der Preis –
o melhor possível
, der bestmögliche – hing schlicht und einfach von den Launen der Inflation ab ( 300 Prozent pro Jahr) und davon, ob der Gast ihnen gefiel.
Nachdem sie durch ein schmales Erbe an dieses fast baufällige Haus geraten waren, hatten Alfredo und Eunice sich in den Kopf gesetzt, es zu einem Hotel umzubauen. Weniger, um ein Vermögen zu verdienen – obwohl, an den ersten euphorischen Tagen hatten sie sich dieser Illusion hingegeben –, als aus Liebe zum einfachen Dasein und im Wunsch, ein bisschen Leben nach Alcântara zu bringen. Sie waren Anhänger eines
alternativen Lebensstils
, ein Wort, das sie häufig im Munde führten – als Allheilmittel gegen die
bürgerliche Erstarrtheit
und die
Knechtung des Planeten durch den
US -Imperialsmus
–, und so überlebten sie mehr schlecht als recht in diesem Refugium von Frieden und Menschlichkeit. In der Hochsaison konnte es vorkommen, dass ein paar in die Kolonialarchitektur vernarrte Touristen das letzte Schiff verpassten und in ihrem Hotel strandeten, dem einzigen in ganz Alcântara, wodurch Eunice und Alfredo zusammen mit den Einnahmen aus dem Restaurant einigermaßen übers Jahr kamen. Aus Seelengüte mehr denn aus Notwendigkeit beschäftigte das sympathische Paar die alte Socorró als Köchin und als Zimmermädchen.
Zwei Gläser und zwei große Flaschen Bier in der Hand, tauchte Alfredo wieder auf.
»Irrsinnig kalt! Wie du es magst«, sagte er und setzte sich zu Eléazard an den Tisch.
Er goss vorsichtig ein und prostete ihm zu:
»Saúde!«
»Santé!«
, wiederholte Eléazard und stieß mit ihm an.
»Übrigens, weißt du schon das Neueste? Wir haben ein Zimmer vermietet!«
Mitten in der Regenzeit war das durchaus ungewöhnlich, und Eléazard schaute erstaunt.
»Ich schwör dir, es stimmt!«, beharrte Alfredo. »Eine Italienerin, Journalistin wie du, und …«
»Ich bin kein
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