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Wo Tiger zu Hause sind

Wo Tiger zu Hause sind

Titel: Wo Tiger zu Hause sind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Marie Blas de Roblès
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seinen Armen. Ihr Hass auf den Indio wurde von dem immer deutlicheren Eindruck überlagert, die kurze Liaison mit ihm sei ein Hinweis auf etwas anderes gewesen. Je verbitterter sie war, desto näher fühlte sie sich den beiden anderen, wie um die offene Wunde zu heilen, die die Erlebnisse in Canoa ihr geschlagen hatten.
    Ganz anders als Roetgen, der letztlich nichts begriff, hatte Thaïs ihrer Freundin den Fehltritt aber nicht verziehen. Entsetzt war ihr allzu deutlich klar, dass die Verbindung trotz aller Beteuerungen zerbrochen war. Zwar schlief sie zum Vergnügen mit Xavier – und im Wissen, dass das nur ein Zwischenspiel war –, aber vor allem, um Moéma zu erreichen. Nicht aus Gehässigkeit oder Groll, sondern aus Verzweiflung: Sie war wohl die Einzige, die wirklich litt, denn als Einzige der Gruppe empfand sie eine echte Liebe, die keinen anderen Zweck hatte als sich selbst.
    Xavier, der spinnendürre Segler, war da und doch nicht da, lebte in den Tag hinein ohne das geringste Bewusstsein dafür, was ihnen allen widerfuhr, urteilte über nichts. Er war niemals nüchtern, rauchte einen Joint nach dem anderen, lachte unablässig. Er war eine Möwe, magnetisch vom Horizont angezogen, ein vom Augenblick Besessener, er schwebte fern über ihnen. Ein sehr seltsamer Zugvogel, eine Art zarter Engel, aber zu allem bereit, den sie alle drei mit dem Wissen um seinen baldigen Abflug umsorgten. Ein schnurrbärtiges Lächeln, würdig der schönsten Träume einer Alice Liddell.
    Was auch immer ihre Gründe waren, die vier warfen sich in eine besinnungslose Flucht nach vorn – wie man es so nennt, wenn man anders den Überschwang seines Verhaltens nicht zu erklären weiß –, bei der sie nichts als Unfug anstellten.
    In Canindé, wo sie anhielten, um die dem heiligen Franziskus geweihte Kirche zu besichtigen, erlaubte ihnen der Priester, sich unter den Hunderten hinter einem Gitter aufgebauten Ex-Votos zu bedienen. Vor der Wunder wirkenden Statue hatten die Gläubigen zahllose aus Holz oder Wachs geformte Abbilder aller möglicher Körperteile fast hüfthoch aufgeschichtet: Brüste, Beine, Schädel, Eingeweide, Geschlechtsteile … Ob man an der Prostata oder einem Geschwür litt, ob man Beistand für eine Operation oder die Hochzeitsnacht erflehte, man brauchte nur den beteiligten Körperteil zu opfern, schon wurde einem dank dem heiligen Franz übernatürliche Heilung zuteil.
    »Es ist so viel, dass ich einmal pro Monat alles verbrennen muss«, hatte ihnen der Priester gestanden, »also schließt hinter euch ab, nehmt, was ihr wollt, und bringt mir hinterher den Schlüssel zurück …«
    Nachdem sie sich über die vielen naiven Danksagungen mokiert hatten, die überall an den Wänden hingen und den Schutzpatron von Canindé für allerlei Wundertaten priesen – »Danke, São Francisco, dass meine kleine Tochter den Schlüssel ohne Schmerzen hat wieder ausscheiden können« –, schliefen die beiden Paare mitten unter den Ex-Votos miteinander, halb unter grobgeschnitzten Köpfen begraben, unter den Gliedmaßen und Organen dieser fiktiven Körper. Hinterher waren sie ein wenig angewidert, aber stolz auf ihr wirklich lästerliches Wagestück.
    Unwirklich! Thaïs fand kein anderes Wort, um zu beschreiben, was sie alles sahen. Durch einen Schlitz in einem gläsernen Sarkophag, darinnen eine weißlich blasse Christus-Statue, steckten die Gläubigen kleine Banknoten als Opfer – eine durchsichtige Spardose mit dem im grünlichen Schimmel der Geldscheine treibenden Kadaver eines Ertrunkenen. Sie ließen ein paar Spielkarten auf ihn fallen, ein Kondom, Ölpapier und mehrere mit blasphemischen Schmähungen bekritzelte Seiten aus dem Notizheft.
    Sturztrunken posierten sie vor einem der Ölbilder des heiligen Franziskus, die halbverhungerte fliegende Händler hier und dort auf dem Bürgersteig aufbauten. Sie hatten verabredet, in dem Moment, da der Fotograf auf den Auslöser drückte, irgendein intimes Geheimnis zu murmeln. Danach waren sie ganz hingerissen, dass auf den Schwarzweißbildern, die vor ihren Augen in einem mit Muffen versehenen Becken aus galvanisiertem Blech entwickelt wurden, ihre Lippen nicht zu sehen waren.
    Es war das reinste Lourdes, oder Benares, wie man will; die Menschenmassen aus dem Sertão überschwemmten die Stadt mit ihrer Misere. Leprakranke, die ihr Elend auf Knien durch den Staub schleppten, von schwarzem Schorf überkrustete Kranke, Krüppel, unvorstellbar versehrt, Monstergestalten, die man

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