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Wo Tiger zu Hause sind

Wo Tiger zu Hause sind

Titel: Wo Tiger zu Hause sind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Marie Blas de Roblès
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zurechtgeträumt hat, wie wir alle es tun, jeder auf seine Weise …«
    »Das mag ja sein« – Eléazard goss nervös nach –, »aber wenn der Gegenstand meiner Einbildung die besten Stellen von Nobili oder Boym kopiert, ohne die Autoren zu nennen, wie in der
China illustrata
, dann ist das einfach ein schamloses Plagiat, und das gereicht ihm nicht gerade zur Ehre. Was sagen Sie dazu? Das ist glatter geistiger Diebstahl, den werden Sie doch nicht verteidigen wollen?«
    Doktor Euclides nahm einen Schluck Cognac.
    »Plagiate sind würdelos, da gebe ich Ihnen recht. Spontan reagiere ich genau wie Sie. Ich weiß aber, dass ich damit einem Gemeinplatz des Zeitgeistes folge … Der Kern des Problems ist der schöpferische Akt selbst, der Umstand, dass er nicht denkbar ist, ohne zur Imitation zu greifen.«
    »Ja, aber schlichtes Abschreiben ist etwas anderes als Imitation …«
    »Bitte, lassen Sie mich eine Erklärung versuchen … Voltaire und Musset haben beide heftig gegen Plagiate gesprochen – ich meine mich zu erinnern, dass Sie für den Ersten eine gewisse Bewunderung hegen, oder?«
    »Das stimmt«, gab Eléazard zu, ahnungslos, worauf der alte Mann hinauswollte.
    »Voltaire hat ganze Gedichte von Maynard als seine ausgegeben, und erinnern Sie sich an Musset:
Mein Glas ist nicht groß, doch trinke ich aus meinem Glase
? Das sind Stellen von Carmontelle, die er sich angeeignet hat. Bis aufs Komma genau! Vergleichen Sie da mal Carmontelles
Der Zerstreute
mit Mussets
Man kann doch nicht an alles denken
, dann sprechen wir uns wieder … Noch Beispiele gefällig? Nehmen wir den Aretino, Leonardo Bruni: Seine gesamte Geschichte des Krieges der Italier gegen die Goten ist nach Prokopius übersetzt, aus einem Manuskript, von dem er dachte, er sei dessen einziger Besitzer … Machiavelli? Dieselbe Geschichte: In seiner
Vita di Castruccio
legt er seiner Figur Plutarchs
Apophthegmata
in den Mund … Ignatius von Loyola? Werfen Sie mal einen Blick in die
Ejercicios espirituales
von García Cisneros, und Sie erleben eine unsanfte Landung …«
    »Ignatius von Loyola?«, rief Eléazard.
    »Nicht wortwörtlich, aber mehr als nur ›inspiriert von‹ … was nicht gar so schlimm wäre, alles in allem genommen, wenn er denn seine Schuld eingestanden hätte, wie La Fontaine Äsop gegenüber.«
    »In diesem Fall handelt es sich um eine Nachschöpfung. La Fontaines Fassung in Versen ist dem Original deutlich überlegen, das werden Sie zugeben …«
    »So, jetzt hab ich Sie!« Euclides drohte ihm neckend mit dem Finger. »Ob man einen Text oder Ideen plagiiert, ist exakt dasselbe. Die gesamte Kunstgeschichte, sogar die Ideengeschichte besteht aus dieser mehr oder weniger weit getriebenen Assimilation von dem, was andere vor uns bereits geäußert haben. Niemand entgeht dem, seit Anbeginn der Welt. Da gibt es nichts zu sagen, höchstens, dass die menschliche Phantasie eben Grenzen hat, was wir von jeher wissen, und dass Bücher aus anderen Büchern gemacht werden und Bilder aus anderen Bildern. Seit Anbeginn der Zeiten drehen wir uns im Kreis, immer um denselben Topf herum!«
    »Ich wäre mir da nicht so sicher … Und sowieso: Was hindert einen daran, im Falle eines Falles dann eben Anführungszeichen zu setzen? Es sei denn, Ruhmsucht und der Ehrgeiz, mehr zu gelten, als man verdient hat.«
    »Jetzt denken Sie mal ein bisschen nach. Wenn Vergil einen Vers von Quintus Ennius verwendet, als entstammte er seiner eigenen Feder, und das hat er mehrfach getan, ob es Ihnen gefällt oder nicht … Nein, Entschuldigung, damit werde ich mich nicht aus der Affäre ziehen. Nehmen wir lieber den Ausspruch von Spengler, den Sie eben zitiert haben:
Geschichte ist das, was sich einmal wirklich begeben hat
. Sie haben durch eine elegante kleine Pause und Ihre Intonation angezeigt, dass er nicht von Ihnen ist. Gut. So habe ich es jedenfalls gedeutet, weil ich seit Jahren mit Ihnen Umgang habe. Ein anderer hätte glauben können, Sie hätten diese Definition tatsächlich gerade selbst geprägt. Und dennoch sehen Sie sich nicht als Plagiator.«
    »Sie sind ungerecht, ich wusste, dass Sie das kennen …«
    »Zugestanden, das ist nicht das Problem. Wie oft aber geben wir dieser natürlichen Neigung nach? Mein eigenes Zitat von Duby zum Beispiel. Ich habe das Werk, aus dem es stammt, nie gelesen. Ich weiß nicht einmal mehr, ob ich es irgendwo als Zitat gelesen oder nur gehört habe, es solle von ihm stammen. Vielleicht hat er es nie

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