Wo Tiger zu Hause sind
wetteiferte lange mit Poussin; van Gogh kopierte Gustave Doré, Delacroix und japanische Drucke; Max Ernst war ganz selbstverständlich darauf verfallen, die Stiche der anderen zu zerschneiden und auf seine Weise zusammenzusetzen. Picasso, Duchamp usw. – kein wahrer Künstler hatte darauf verzichtet, sich zumindest in seinen Anfängen durch Pasticcio, Parodie, Plagiat zu nähren …
Kurz vorm technischen K.o. versuchte Eléazard noch einen Ausweich-Trick:
»Sie weichen dem Spiel aus, und das wissen Sie, Doktor … Ich verstehe, was Sie sagen wollen, und doch gibt es einen Unterschied zwischen der Bewunderung eines Künstlers für einen anderen und der Unterschlagung, die darin besteht, sich einen Teil seines Werks unter den Nagel zu reißen. Ich sehe nichts Schlechtes darin, wenn ein Künstler dem anderen nacheifert, um das Handwerk zu erlernen. Da sind wir ganz einer Meinung. Nur hat das mit Plagiat nichts zu tun. Ist das nur in der Malerei möglich? Glauben Sie im Ernst, man könnte heute ein Glas Wasser auf einem Regenschirm malen, ohne umgehend des Motivklaus bei Magritte beschuldigt zu werden?«
»Sie mögen Magritte?«
»Ja, sehr.«
»Dann haben Sie es nicht besser verdient …«
Doktor Euclides sprang mit einer Dringlichkeit auf, aus der auch ein Spürchen Verärgerung sprach. Eléazard folgte ihm mit Blicken, indes er murmelnd die Ränge seiner Bibliothek durchsuchte, die Brille geradezu an den Bücherrücken klebend.
»So« – er kam mit einem Stapelchen von Werken zurück, den er auf seinen Knien behielt. Auf den Tisch legte er einen großen, dem belgischen Künstler gewidmeten Katalog: »Und jetzt suchen Sie bitte mal den
Mann mit der Zeitung
.«
Eléazard kannte das fragliche Bild: Es zeigte einen Mann, der sich, Zeitung lesend, an seinem Ofen wärmt. Auf den drei anderen Abteilungen des Bildes wird dieselbe Szenerie gezeigt, derselbe Ofen, dasselbe Fenster, derselbe Tisch, aber ohne die Figur.
»Hier, bitte«, sagte er ein klein wenig herablassend.
Daraufhin reichte ihm Euclides einen weiteren, in Leinen gebundenen Band:
»Dann suchen Sie doch bitte einmal einen Artikel mit der Überschrift
Glühstoff-Ofen ›Ideal‹
und betrachten die Figur, die ihn darstellt …«
Den Exzentrismus des alten Herrn still belächelnd, warf Eléazard zunächst einen Blick auf Autor und Titel –
Bilz: Das neue Naturheilverfahren
–, dann auf den polychromen Buchdeckel, der reliefartig gestaltet war wie in der alten Hetzel-Reihe. Die Ornamentik war typisch Fin de Siècle. Eine junge Frau war abgebildet, von der wohltätige Strahlen über zwei in der freien Natur sitzende Kinder ausgingen. Eléazard blätterte in dem dicken Buch nach dem von Euclides genannten Eintrag: »Blinddarmentzündung; Blutkreislauf; Brote; Brüche; Bruchbänder; Diphtherie; Gebärmutter; Gewerbskrankheiten; Gicht; Glühstoff-Ofen ›Ideal‹ …«
Sein amüsiertes Staunen wandelte sich in einem Sekundenbruchteil zu völliger Verblüffung. Doktor Euclides legte den Finger vor den Mund, ließ ihm keine Zeit für eine Reaktion:
»Jetzt nicht, bitte«, meinte er müde. »Nehmen Sie das alles mit nach Hause, wir reden ein anderes Mal darüber. Verzeihen Sie, aber ich muss mich jetzt für ein, zwei Stündchen hinlegen.« Trotzdem bestand er darauf, Eléazard noch zur Tür zu bringen: »Und meine besten Grüße an Kircher!«, sagte er dort leise, aber so tiefernst, dass der liebenswürdige Spott beinahe etwas Anzügliches bekam.
Als sie am frühen Nachmittag aufwachte, hatte Loredana einige Mühe, ihre Erinnerungen zu sortieren. Hinter ihrer Migräne pochten immer noch undeutlich die Rhythmen der Macumba. Was war gegen Ende der Zeremonie vorgefallen? Wie war sie wieder ins Hotel gelangt? Sie sah Alfredos Gesicht vor sich wie eine eiserne Maske. Das schmutzig durch die Fensterläden sickernde Licht schien ihre auf dem Fußboden verstreuten Kleidungsstücke mit grauem Schimmel zu überziehen. Ihr ganzer Wille richtete sich darauf, wieder zu sich zu kommen, die Traurigkeit, das Erstickungsgefühl dieses Aufwachens zu überwinden, aber die Schläfrigkeit trug sie wieder fort, hin zum kaum wahrnehmbaren Wuseln verschiedener Traumfetzen.
Als sie sich endlich im Bett aufsetzen konnte, wirkten die Bilder der Nacht nur noch grotesk. Sie hatte sich eingebildet, von diesem Erlebnis nichts zu erwarten, doch angesichts ihrer noch tiefer gewordenen Verzweiflung wurde ihr jetzt klar, dass das Gegenteil zutraf. Trotz der kurzen
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