Wo Tiger zu Hause sind
geschrieben, wie es bei diesen Sinnsprüchen, die von Mund zu Mund gehen, häufig der Fall ist, ohne dass es irgendwem einfiele, die Quelle zu prüfen. Ein Gerücht eigentlich, einfach ein Gerücht … Man muss ja auch bedenken, dass die einfachste Konversation unmöglich würde, wenn wir jedes Wort erst prüfen müssten.
Geschichte ist das, was sich einmal wirklich begeben hat.
Können Sie sicher sein, dass niemals jemand vor Spengler diesen banalen kleinen Spruch geäußert hat? Um einen einzigen Satz ohne Anführungszeichen zu sagen, müssten wir alles präsent haben, was seit Urzeiten geschrieben und gesagt worden ist! Diese Herkunftsrecherche wäre ein unendliches Unterfangen, sie würde zum Verstummen führen, zu sonst nichts. Was Kircher angeht, warum nicht an den Autoren zweifeln, bei denen er sich bedient? Wer garantiert Ihnen denn, dass nicht auch Mersenne irgendeinen Studenten seiner Entdeckungen beraubt hat? Wo hören die Anführungszeichen auf? Wenn ich schreibe:
Geschichte ist das, was wirklich verschwunden ist
, darf ich das dann als meine eigene Prägung ausgeben, oder muss ich Anführungszeichen setzen und eine Fußnote einfügen, die Spengler zu seinem Recht verhilft? Da könnte man gleich sämtliche Wörter des Lexikons mit Anführungszeichen versehen und ebenso jede ihrer nur möglichen Kombinationen, denn ich kann in dem Moment, wo ich sie verwende, ja nicht sicher sein, dass sie nicht in einem der vielen Millionen Bücher stehen, die ich nie lesen werde … Sie verstehen, was ich meine, Eléazard: Am Ende zählt die universelle Gehirnmasse, nicht die Einzelnen, die sie sich durch Zufall oder absichtlich aneignen.«
»Meine Herren«, staunte Eléazard, »nicht übel für jemanden, der fand, er sei heute nicht recht in Form … Aber geben Sie zu, Sie treiben es ein bisschen sehr weit! Ich kann mir nicht vorstellen, dass Ihnen so wenig am geistigen Eigentum liegt.«
»Genau in diese Wunde muss man den Finger legen, mein Lieber. Es gab Zeiten, in denen weder Bücher noch andere Geistesprodukte ihren Schöpfern irgendetwas einbrachten. Plagiatsprozesse tauchen erst mit der industriellen Revolution auf. Ist das nicht merkwürdig?«
»Und der Ruhm, Doktor? Der Ruhm eines Vergil oder Cervantes, eines Athanasius Kircher, jenes ›Mannes der hundert Künste‹, jenes ›Genies‹, das alle Welt verehrte?«
»
Rome, Rome, l’unique objet de mon ressentiment, Rome à qui vient ton bras d’immoler mon amant [15] !
Vielleicht wissen Sie, von wem das stammt?«
»Von Corneille natürlich«, antwortete Eléazard, fast beleidigt durch eine derart elementare Frage.
»Eben nicht, lieber Freund, eben nicht! Sondern von Jean Mairet, einem armen Menschen, der Corneille dafür danken sollte, dass er bei ihm abgeschrieben hat; nur diesem zufälligen Umstand verdankt er es, dass er überhaupt noch in ein paar gelehrten Kommentaren auftaucht. Aber selbst wenn er den Dieb verklagt hätte, hätte das an der traurigen Realität nichts geändert: Seine Tragödie war schlecht, die von Corneille gelungen … Zwei, drei Leihgaben genügen nicht, einen Ruhm zu begründen; manche Schuhe sind natürlich viel zu groß für die Schreiberlinge, die hineinzuschlüpfen versuchen. Aber ganz im Ernst: Ohne Plagiate geht es nicht! Und ach, selbst diese schlichte Behauptung ist nicht von mir. Sondern von Lautréamont:
Man lehnt sich eng an den Satz eines Autors an, man benutzt seine Wendungen, lässt eine falsche Vorstellung beiseite, um eine richtige einzufügen …
Was er selbst praktizierte, wenn er ohne jede Scheu die Maximen von Pascal oder Vauvenargues korrigierte.
Die Dichtung muss von allen gemacht sein
, schreibt er etwas weiter. Wichtig sind nicht die Wörter, sondern was sie um sich herum verwandeln, was sie in dem Geist, der sie empfängt, keimen lassen. Und das gilt für alle andere auch, Eléazard! Bevor er er selbst wird, kopiert Beethoven Mozart, Mozart Gluck, Gluck Rameau und so weiter. Inspiration ist nur ein schönes Wort für Imitation, und dies wieder nur ein Synonym für Plagiat.
Plagiator
bedeutet auf Griechisch
Sklavenräuber
… Doch auch Räuber des Feuers, des Sprungbretts zu den Sternen!«
Überrumpelt angesichts des Zitats von Lautréamont, kapitulierte Eléazard. Doktor Euclides brachte noch jede Menge Beispiele aus der bildenden Kunst, berief sich auf Aristoteles und Winckelmann … Poussin hatte eine heute verschwundene römische Freske als Hintergrund eines seiner Bilder gewählt; Turner
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