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Wo Tiger zu Hause sind

Wo Tiger zu Hause sind

Titel: Wo Tiger zu Hause sind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Marie Blas de Roblès
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wie der Vater seines Vaters es immer gesagt hatte, wie es von jeher prophezeit war. Endlich hatten die Vorhersagen sich erfüllt. Warum aber hatte der Gesandte nur ein Bein? Warum redete er unverständliches Zeug statt in der göttlichen Sprache, jenen alterslosen Worten, die er seinem Sohn sang, wie sein Vater sie ihm einst gesungen hatte? Das zu verstehen, war ihm noch nicht gegeben. Aber es hatte gewiss einen Sinn.
    Der Schamane schüttelte seine mit Körnern gefüllte Rassel, blies über den Gesandten hinweg, um böse Geister zu vertreiben, und sprach die feurigen Worte:
    »
Deusine adjutori mintende
«, indem er nacheinander auf seinen Kopf, seinen Bauch und die beiden Arme zeigte, »
dominad juvando mefestine

    »Da hätten wir die Antwort«, sagte Elaine, die das Kreuzeszeichen erkannte. »Die weißen Priester waren hier …«
    »Und nicht nur das!« Mauro war ganz aufgeregt. »
Deus, in adjutorium meum intende; Domine, ad adjuvandum me festina
: ›Eile, oh Gott, mich zu retten, oh Herr, mir zu helfen!‹ Das ist Psalm  70 , den habe ich als Messdiener wer weiß wie oft gesprochen! Der Kerl spricht Latein!«
    Als er Mauro hörte, fing der Schamane an, sich um sich selbst zu drehen; der Tabakpriem kreiste in seinem Mund wie die Zunge eines Papageis.
    »Wir gehen zum Fluss«, erklärte Detlef, indem er mühsam seine Fetzen Latein zusammensammelte. »Weiße Männer … die Stadt!«
    »
Gloria patri!
«, rief der Schamane, entzückt, die Klänge der heiligen Sprache zu erkennen.
»Domine Qüyririche, Quriri-cherub!«
    Er frohlockte: Der Vater war gekommen, er, der Schweigende, der königliche Falke! Nichts stand jetzt mehr zwischen ihnen und dem Flug ins Land-ohne-Schmerzen …
    »Quiriri, quiriri«
, äffte Petersen den Alten nach. »Das Theater geht mir allmählich auf die Nerven. Dieser Affe ist doch halb gaga … Der versteht kein Wort von dem, was ihr sagt. Wenn das so weitergeht, sehe ich schwarz, wartet bloß ab!«
    In diesem Moment erkannte Elaine die Machete in der Hand eines der Krieger. Es konnte sich zwar um einen Zufall handeln, aber sie meinte, das müsse ihre zweite sein, genauer diejenige, mit der Yurupig aufgebrochen war. Petersen hatte ihren Blick bemerkt:
    »Amigo«, sagte er zwischen den Zähnen zu Detlef, »Sie geben mir besser mal die Knarre … Das sind keine Netten, sie haben Yurupig geschnappt …«
    »Kommt überhaupt nicht in Frage!«, antwortete Elaine reflexhaft. »Was beweist Ihnen, dass …«
    »Es ist Yurupigs Machete«, beharrte Herman entschieden, »gar keine Frage, und sehen Sie mal, wie er sie anfasst: Der Typ hat zum ersten Mal in seinem Leben eine Machete in der Hand. Der hat Yurupig abgeschossen, jede Wette.«
    »Hört endlich mit dieser Paranoia auf, Scheiße nochmal!« Detlef wischte sich die Stirn. »Alle beide! Die wollen uns nichts Böses, das sieht man doch. Das Gewehr können Sie gern haben, ich habe das Magazin im Dschungel weggeworfen.«
    »Sie Idiot! Sie dämlicher Idiot! Das kann nicht Ihr Ernst sein!«
    »Ich bin müde, Herman, ich kann nicht mehr … Suchen Sie lieber einen Weg, sich mit den Indios zu verständigen. Ich halte nicht mehr lange durch …«
    Elaine war den Tränen nahe. Alles wurde immer nur noch komplizierter. Trotz dem, was Detlef sagte – sie bewunderte ihn, aber sein Mut tat geradezu weh –, war sie sicher, dass Yurupig etwas zugestoßen war.
    »Er muss doch wissen, was man für Sie tun kann«, meinte Mauro ohne allzu viel Überzeugung. »Schau doch«, sagte er zu dem Schamanen, »er ist krank!« Er wies auf Detlefs Beinstumpf: »Er braucht Hilfe. Und Wasser. Trinken?« Er hob pantomimisch ein Glas an den Mund.
    Die Augen des Schamanen leuchteten auf. Ich, Raypoty, entfernter Enkel von Guyraypoty, dachte er, werde mein Volk ins Land-der-ewigen-Jugend führen. Eben war es ihm gezeigt worden, unmissverständlich: Qüiririche, der Gesandte, Der-mit-Schamhaar-im-Gesicht, würde sie alle vom Wasser des Jungbrunnens trinken lassen. Man musste ihn würdig begrüßen, ihn mit einem Fest ehren, das ihn erfreuen würde, ihn und seine Gefährten …
    Rasch gab er ein paar Befehle; zwei junge Krieger griffen die Trage, die Menge teilte sich und machte den Weg zu der größten Hütte frei. Als sie sahen, dass Elaine mit ihren Freunden auch hineinging, murmelten die Männer missbilligend. Rayopty brachte sie unverzüglich zum Schweigen: Diese Frau war Nandeçy, die Mutter des Schöpfers, seine Gefährtin, seine Tochter, seine Frau. Ein

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