Wo Tiger zu Hause sind
irgendeines geographischen oder historischen Zufalls hatte dieser Stamm nie etwas anderes erlebt als den Dschungel, und das war ein ähnlich ergreifender Anblick, wie einen lebenden Quastenflosser zu Gesicht zu bekommen. Mauro war in derselben Situation wie die ersten Erforscher der Neuen Welt, jene vom El Dorado angezogenen Haudegen – oder besser, in der Situation der ersten Weißen, die sich den Indios mit anderen Absichten näherten als der, sie zu massakrieren. Wie hatten die es angestellt, sich mit ihnen zu verständigen? Wo hatten sie angefangen?
»Elaine«, sagte er unvermittelt ernst, »wir können nicht einfach nur abwarten … Ich gehe zu diesem Häuptling. Ich muss ihm irgendwie begreiflich machen, was wir wollen. Sie bleiben hier bei Detlef.«
Bevor sie antworten konnte, war er schon aus der Hütte heraus.
Als er auftauchte, endeten sämtliche Aktivitäten des Stammes sofort. Der Schweiß brach ihm auf der Stirn aus. Mauro ging zu der Hütte, aus der vorhin der Schamane aufgetaucht war. Frauen und Kinder blieben, wo sie waren, die Männer kamen ihm unmerklich immer näher und umringten ihn, während sie ihn auf seinem Weg begleiteten. Die plötzliche Stille hatte den Schamanen wohl alarmiert, denn noch war Mauro rund zwanzig Meter von dessen Hütte entfernt, als er ihm unter der Türmatte hindurch entgegenkam.
Mauro deutete mit dem Finger auf sich selbst.
»Ich – Mauro«, sagte er. »Und du?«
»Ig – Maro. Untu?«
, wiederholte der Alte mit hochgezogenen Augenbrauen.
Offenbar wollte der junge Gott ihm ein paar neue, höchst wirksame Formeln beibringen; er gab sich Mühe, sie sich genau einzuprägen.
Instinktiv vereinfachte Mauro seine Äußerung:
»Mauro«, wiederholte er mit derselben Geste, aber dringender. »Du?«
»Maro – du!«
, rief der Schamane lernbegierig.
Mauro seufzte resigniert. Vielleicht musste man mit etwas Einfacherem anfangen? Er blickte suchend umher, dann folgte er einer plötzlichen Eingebung:
»Nase!«, sagte er und deutete auf seine Nasenspitze. »Nase!«
»Naseh!«
, wiederholte der Schamane, so gut er konnte.
Warum war es wohl mit einem Mal so wichtig zu riechen, welchen Duft sollte er erschnuppern, was sollte er bedeuten?
Mauro wiederholte die Bewegung, aber nicht das Wort.
»Naseh?«
, meinte der Schamane und schnupperte um sich herum,
»Naseh, Naseh, Naseh?«
Das war ja nicht berühmt. Mauro verzog entmutigt den Mund. Er sah eine Matte voller unbekannter Früchte und ging zu ihr hin, gefolgt vom Schamanen und der Menge der Indios, die der Unterredung folgten. Mauro nahm eine Frucht und hielt sie dem Alten hin.
»Jamacaru Nde«
, sagte dieser würdig. Diese
Jamacaru
gehört dir.
»Jamacaruendeh?«
Mauro bemühte sich, es möglichst exakt nachzusprechen.
»Naàni! Jamacaru Nde!«
– nein, sie gehört dir –, beharrte der Schamane.
Wenn der junge Gott die Frucht haben wollte, konnte er sie nehmen, sie gehörte ihm, wie alles, was der Stamm besaß.
»Nani, jamacaruendeh!«
, sagte Mauro automatisch, und ihm wurde klar, das er kein Stückchen weitergekommen war.
Hieß diese Frucht jetzt
jamacaruendeh
oder
nani
? Abgesehen davon konnten diese Wörter natürlich auch
gelb, reif
oder
essen
bedeuten … oder irgendeine Tätigkeit bezeichnen, an die er nicht einmal dachte.
Angesichts solcher Beharrlichkeit schüttelte der Schamane den Kopf. Verlegen nahm er die Frucht entgegen, die Mauro ihm hinhielt, gab ihm aber rasch zwei, drei andere.
»Entschuldige, Alterchen, aber mir reicht’s …«, sagte Mauro freundlich, im Bewusstsein, dass sein Versuch gescheitert war. »
Ciao!
Ich leg mich erstmal ein bisschen hin …«
Im Umdrehen sah er ganz in seiner Nähe einen Indio, der eine Machete in der Hand hatte. In dem Moment, als er genauer hinsah, ob es sich tatsächlich um eine von ihren handelte, fiel ihm ein glitzernder Gegenstand auf, den der Mann um den Hals trug: der Kompass! Der Kompass, den sie Yurupig mitgegeben hatten …
»Woher hast du den?«, schrie er und fasste an den Kompass, zur Verblüffung des Indios. »Der Kompass, verdammte Scheiße!«
Die Menge bewegte sich, unwilliges Murmeln wurde laut, das der Schamane mit einem einzigen Wort zum Verstummen brachte. Nambipaia hatte einen Fehler begangen, erklärte er. Er hätte dieses Ding nicht nehmen dürfen, der junge Gott sah das nicht gern! Man musste es sofort seinem Eigentümer wiedergeben …
Er schob seinen Stammesgenossen an der Schulter an und bedeutete Mauro mitzukommen.
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