Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wo Tiger zu Hause sind

Wo Tiger zu Hause sind

Titel: Wo Tiger zu Hause sind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Marie Blas de Roblès
Vom Netzwerk:
wenig überrascht. In ihrem Gesicht stand jener etwas verlegene, verwirrt-verletzliche Ausdruck, der Geständnissen vorausgeht. Wenn er später seine Erinnerungen Revue passieren ließ, tat es ihm leid, dass er sie in diesem Moment nicht geküsst hatte. Höchstwahrscheinlich wäre dann alles anders gekommen.
    »Was hast du dann gemeint?«, fragte er behutsam.
    »Es ist wegen der Koffer«, sagte sie rätselvoll. »Es bleibt nicht viel von einer Geschichte, wenn sie einmal zu Ende ist. Sachen, die auf dem Meer treiben, wie nach einem Schiffsunglück …«
    Immer noch, ohne ihn anzusehen, suchte sie seine Hand und ergriff sie, als ob nichts wäre.
    »Ich bin doch deine Freundin, oder?«
    »Mehr als das«, sagte Eléazard mit mühsam unterdrückter Rührung, »das weißt du.«
    »Wenn ich dich einmal brauche … Ich meine, wenn ich deine Hilfe brauche, ganz dringend … kommst du dann?«
    Eléazard reagierte mit dem gebotenen Ernst auf diese eigentümliche Bitte. Er verstärkte den Druck seiner Hand, als Versprechen, dass er da sein würde, was auch geschehe. Trotz seines Glücks, dass sie sich ihm so anvertraute, begriff er nicht, dass sie genau jetzt seine Hilfe benötigte. Vielleicht hätte er diese Einsicht gebraucht, um sie zurückzuhalten, und damit sie diese Schweigepause auf den Planken des Anlegers nicht zu einem Lebewohl machte. Vielleicht hätte sie ihre Entscheidung auch nicht rückgängig gemacht, wer kann das wissen? Er hatte Angst, ihr zu nahezutreten, wenn er sie in die Arme nehmen würde, Angst, indiskret zu erscheinen, wenn er sie nach dem Grund ihrer Traurigkeit fragte, Angst, sie zu kränken, wenn er sagte, dass ihre Furcht sich nicht lohnte, dass das Leben da sei und er sie liebe.
    Sie warteten zusammen ab, bis sich der Abend auf das Meer senkte. Dann wurde ihr kalt, auch wegen des leichten Nieselregens, und sie wollte nach Hause. Hand in Hand gingen sie zum Platz zurück. Keiner von beiden sagte ein Wort, beiden schnürte die Gewissheit die Kehle zu, dass sie dann sofort losweinen würden. Beim Abschied küsste sie ihn auf den Mund; Eléazard sah ihr nach, wie sie zum Hotel ging, ohne zu wissen, dass er sie nicht wiedersehen würde.

São Luís
    Der würde nach Manaus versetzt.
    Während er die Treppe zum Regierungspalast hinaufging, fielen dem Oberst José Moreira da Rocha die betretenen Mienen der Angestellten auf, die innehielten, um ihn zu begrüßen. Alle Welt war auf dem Laufenden … Diese Schmeißfliegen! Die dachten doch nicht im Ernst, er würde sich das ohne Gegenwehr gefallen lassen! Immer bereit zu jammern, aber wenn es darum ging, ihren Chef zu schützen, war auf einmal keiner mehr da … Okay. Das waren die Spielregeln, er kannte sie besser als sonst jemand. Denen zeig ich’s, dachte er und zwang sich, ihnen allen zuzulächeln, mich fordert man nicht ungestraft heraus! Als er sein Büro betrat, die Aktentasche unterm Arm, gönnte er es Anna sogar noch, dass er ihr den Rücken tätschelte. Ein Glück, dass er mit der Zeitungslektüre nicht bis hier gewartet hatte! So hatte er den Schlag allein einkassieren können, im Fond seines Wagens, ohne seine Gesichtszüge beherrschen zu müssen angesichts dieser Hyänen. Mehr als genug Zeit, um sich eine Strategie für den Gegenangriff zurechtzulegen. Man musste allerdings schon zugeben, die Ratten, von denen dieses Dossier gegen ihn stammte, hatten ganze Arbeit geleistet. Manche Details waren nur einem ganz kleinen Personenkreis bekannt, es musste in seiner nächsten Umgebung einen Informanten geben. Man konnte nie misstrauisch genug sein … Wer ihm das angetan hatte, würde sich noch wünschen, er wäre nie geboren worden …
    »Der Pressespiegel liegt bereit, Senhor«, sagte Anna in einem Ton, der professionell sachlich klingen sollte; eine kleine triumphierende Spitze konnte sie dennoch nicht verhehlen. »Herr Minister Edson Barbosa junior hat angerufen, er bittet Sie dringend um Rückruf. Und die Nachrichtenredaktion von TV Globo hat ein Aufnahmeteam geschickt … Ich habe Ihnen die Visitenkarte des Journalisten in den Tagesplan gelegt.«
    »Danke, Anna.« Er stützte sich mit flachen Händen auf den Schreibtisch. »Sagen Sie alle Vormittagstermine ab, ich will niemanden sehen. Jodinha und Santos sollen zu mir kommen, sobald sie im Haus sind.«
    »Das sind sie schon, Herr Gouverneur …«
    »Sehr gut.« Moreira sah auf die Uhr – also wirklich, sogar diese zwei waren heute früh dran. »Ich erwarte sie um zehn Uhr, bis dahin

Weitere Kostenlose Bücher