Wo Tiger zu Hause sind
hatte. Jetzt trieben sie ihr die Tränen in die Augen.
Mauro lehnte sich gegen die Verzweiflung auf:
»Mal angenommen, Sie haben recht«, sagte er, weniger aggressiv als zuvor, »warum sollten sie uns in den Dschungel mitnehmen? Das wäre unlogisch: Sie haben das Dorf doch nicht bloß zum Vergnügen verlassen, oder? Ihre Geschichte ist einfach nicht stimmig …«
»Und Yurupig?« Petersen war nicht zu beirren. »Warum das? Weißt du, was denen in den Sinn kommt? Wenn ich einen Kompass hätte, ich würde abhauen … so schnell wie möglich!«
»Und, was hindert Sie daran, wenn Sie so genau wissen, wohin wir gehen? Na los, lassen Sie sich nicht aufhalten …«
Petersen ignorierte die Provokation. Abgesehen davon, dass man ohne Machete und jede Ausrüstung überhaupt nicht durch den Dschungel kam, fühlte er sich zerschlagen. Die Maschinerie hakte an allen Ecken und Enden … Das Kokain hatte ihm anfangs geholfen, ganz gut durchzuhalten, jetzt strafte es ihn mehr, als dass es ihn stärkte. Wenn die Wirkung nachließ, geriet Herman in derartige Zustände von Schwäche und Niedergeschlagenheit, dass er unbedingt wieder welches nehmen musste, immer häufiger und in immer höherer Dosierung.
»Wir sprechen uns noch«, antwortete er schließlich. »Ich lasse mich aufhängen, wenn wir da, wo es hingeht, auch nur einen Weißen zu sehen bekommen!«
Elaine war klar, dass sie nicht zum Fluss zurückkonnten. Wo auch immer die Indios mit ihnen hinwollten, sie mussten ihnen notgedrungen vertrauen oder aber sich als ihre Gefangenen betrachten, das wurde ihr auf einmal bewusst. Trotz dem, was sie Yurupig angetan hatten, fühlte sie sich bei ihnen nicht in Gefahr. Der ganze Stamm begegnete ihnen mit ausgesuchter Höflichkeit; bisweilen kamen sogar Männer oder Frauen heran und berührten Detlefs Trage. Das konnte nichts anderes sein als Mitgefühl. Jedes Mal sagte sie dann etwas Freundliches und setzte eine einnehmende Miene auf, aber die Indios waren zu beeindruckt, nur ein einziges Mal erwiderte ein kleines Mädchen ihr Lächeln.
Gegen vier Uhr nachmittags hielten sie endlich an; der Stamm verteilte sich im Unterholz, um einen Lagerplatz für die Nacht zu suchen. Verblüffend schnell entstanden Unterstände – vier Stäbe, darauf ein Dach aus Palmblättern, unter dem die Familien rasch ihre Boden- und Hängematten installierten. Die Männer entfachten mittels der mitgebrachten Glut in der Mitte dieser Unterkünfte neues Feuer. Drei Brüllaffen und ein Nasenbär wurden mit Pfeilen erlegt; ein morscher Baumstumpf bot eine große Menge fetter Larven; kleine Mädchen brachten zuckersüße Ameisen, Honig und die Herzen der von den Erwachsenen abgeschlagenen jungen Palmen. Wie von Zauberhand tauchten wilde Orangen auf …
Detlef war immer noch nicht aufgewacht. Elaine reinigte den Stumpf, so gut sie konnte, dann überließ sie sich der Müdigkeit. Auch Mauro und Petersen saßen ermattet beim Feuer, vom Tagesmarsch völlig erschöpft. Von den Insekten gepeinigt, die der Rauch noch nicht vertrieb, aßen sie stumm den Inhalt einer Dose Bohnen; sie brachten es nicht über sich, das anzurühren, was der Schamane ihnen hatte bringen lassen. Mauro kostete eine Orange, aber sie war so bitter, dass er sich fast übergeben musste. Mit dem Honig hatten die Indios einen Brei gewürzt, in dem es so wurmartig wimmelte, dass allein sein Anblick dieselbe Wirkung hatte.
Die Stammesangehörigen beobachteten sie mit einer Diskretion, die in umgekehrtem Verhältnis zu ihrer Neugier stand: Je mehr Wunderdinge die Fremden herausholten – Konservendosen, Messer oder Streichhölzer, alles phantastische Dinge, die wie verstörende Kometen ihren Gesichtskreis durchzogen –, desto weniger interessiert taten sie. Die-aus-der-Nacht-gekommen-waren machten ihnen keine Angst, nein, diese freundliche Zurückhaltung war aus Gründen der Höflichkeit geboten, auch gegenüber Himmelswesen. Einer Frau in die Augen schauen, das bedeutete bereits, mit ihr zu schlafen; einen Mann machte es zum Todfeind. Zwischen Liebe und Kampf gab es keinen anderen Raum für Begegnungen, das hätte die Weltenordnung gestört.
Elaine bemerkte diese geheuchelte Gleichgültigkeit, ohne deren Gründe zu erkennen. Sie war zu müde zum Nachdenken und überließ sich verschwommenen Erinnerungsbildern, sah Eléazard vor sich und ihre Tochter, und ihr war unwohl, weil sie sich beobachtet fühlte. Mauro hörte Caetano Veloso und sah ihr zu, wie sie träumte; die Schlammspritzer
Weitere Kostenlose Bücher