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Wo Tiger zu Hause sind

Wo Tiger zu Hause sind

Titel: Wo Tiger zu Hause sind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Marie Blas de Roblès
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den jämmerlichen Gesang: Der gesamte Stamm ächzte rhythmisch, leise, mit unvermittelten Variationen, aber auch jähem, heiserem Keuchen.
    Die Türmatte hob sich; dieselben Männer, die ihnen zu essen gebracht hatten, forderten sie mit Gesten auf herauszukommen. Ehe sie es sich versahen, standen sie vor dem riesigen Johannisfeuer, das in der Mitte des Dorfplatzes knisterte. Niedrige Sitzbänke, Schüsseln voller zubereiteter Nahrungsmittel, Bier in großen Kalebassen … sie wurden als Ehrengäste behandelt, und Elaine wollte schon wieder Zuversicht fassen.
    Mit roter Farbe bemalt, glänzend, als kämen sie gerade aus dem Wasser, umtanzten mehrere Indios das Feuer. Lange Arafedern staken aus dem gelben Daunenmantel, der ihnen über den Schultern lag. Weiße Daunen besetzten ihren Haarschopf, Eisvogelfedern waren in ihre Ohrmuscheln gesteckt, und sie stellten pantomimisch irgendetwas Tierisches oder sonstwie Organisches dar. Elaine schrak zurück: Der Schamane war vor die kleine Gruppe getreten. In zwei sirupdicken Rinnsalen troff ihm schwarzer Rotz aus den Nasenlöchern, sein schmächtiger Oberkörper war über und über damit bespritzt; er hatte sich auf sich selbst geschneuzt. So wirkte er noch älter und abgehärmter als ohnehin. Wilder … dachte Elaine angewidert, während er zu einer langen, seltam melodischen Rede ansetzte:
    Dies war ein Fest zu Ehren von Qüyririche, ein Fest, zu dem sie für den Gesandten und seine gottgleiche Verwandtschaft sämtliche Nahrungsmittel zubereitet hatten, über die sie verfügten. Das Maniokbier war trinkbereit, sie würden sehr viel
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blasen, Wolken des magischen Pulvers, immer wieder, bis sie die unsichtbaren Gefilde erreichten, in denen die Geschicke der Welten gesponnen wurden. Er, Raypoty, hatte die Zeichen zu lesen gewusst: Jetzt kannte er die Quelle, woher die Steinfische kamen! Lange Jahre über hatte er woanders die Öffnung des Universums gesucht, jenen geheimen Spalt, durch den er und sein Volk endlich wie durch einen sich plötzlich entleerenden Darm aus dem tödlichen Bauch des Dschungels entkommen konnten. Nun aber war der Gott selbst bei ihnen, um ihm die Augen zu öffnen. Nicht mehr mussten sie pflanzen noch jagen, früh im Morgengrauen würden sie aufbrechen und alles hinter sich lassen, was sie beschweren und ihren endgültigen Flug ins Land-ohne-Schmerzen behindern konnte.
    Er endete mit einigen okkulten Worten, die ihm das Wohlwollen des Gesandten bescheren sollten, auf dass dieser ihn und sein Volk führen würde, Worten, die Mauro wieder aus dem Stand übersetzen konnte: »
Lamm Gottes, das du trägst die Sünden der Welt, erbarme dich unser!
Das ist doch Wahnsinn … Es wirkt, als hätte er absichtlich kein Wort von dem verstanden, was wir sagen wollten … Wenn er sich gar nicht darum bemüht, schaffen wir es nie, uns irgendwie mit ihm zu verständigen. Beschissen!«
    »Ich glaube, das ist es nicht.« Detlefs Stimme war fieberschwer. »Ich habe eher den Eindruck, er ist überzeugt, dass wir ihn bestens verstehen … Wir müssen versuchen, mit jemand anderem aus dem Stamm Kontakt aufzunehmen.«
    »Abhauen müssen wir, das ist alles!«, knurrte Petersen. »Mir stinken diese Affen, aber restlos.«
    Der Schamane nahm ein langes Rindenrohr zur Hand, so fein wie ein Blasrohr, und stopfte ein wenig schwarzes Pulver in das eine Ende, das er dann einem vor ihm hockenden Stammesgenossen hinhielt. Dann hockte er sich ebenfalls hin und hielt sich das Rohr vor die Nasenlöcher. Der andere klemmte die Röhre zwischen Daumen und Zeigefinger, holte Luft und pustete dem Schamanen das
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tief in die Schleimhäute.
    »Da bin ich offenbar nicht der Einzige!«, freute sich Petersen.
    Er hatte diese Praktik schon bei den Yanomami beobachtet und wusste, dass sie Zeugen einer rituellen Drogeneinnahme waren.
    Mit geschlossenen Augen und schmerzverzerrtem Gesicht bestückte der Schamane das Rohr erneut und blies jetzt seinem Gegenüber das Pulver ein. Der andere erstarrte, der Schmerz schien unerträglich. Aus seiner Nase troff schwarzer Saft auf sein Kinn, ein kurviges Rinnsal aus Rotz, das er mit jähem Ausatmen auf seinem Oberkörper verteilte. Das Blut der wahren Welt zeichnete auf seiner Brust ein Horoskop, das nur der Schamane allein zu lesen wusste.
    Es war wie ein Startsignal; jetzt begannen alle anderen Indios ebenfalls, das Pulver einzuatmen. Zwischen zwei Einnahmen tranken sie Bier und aßen gierig von allem, das sich in ihrer Reichweite befand. Nach der

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