Wo Tiger zu Hause sind

Babel. Elaine war unverändert fasziniert von dem Meer aus Vegetation, das sich unter ihnen erstreckte. Ja, sie befanden sich auf einer Insel inmitten des Dschungels, einer geographischen Anomalie, die vielleicht von Satelliten schon erfasst, jedoch von keinem zivilisierten Menschen je betreten worden war, das schien ihr ausgemacht.
    Nach dreistündigem, ermüdendem Aufstieg gelangten sie in den Wald auf dem Gipfelplateau, was erneut jede Orientierungsmöglichkeit zunichtemachte. Elaine war frustriert, dass Sonnenlicht und freie Luft ihr so schnell wieder genommen waren. Dem aufmerksamen Mauro fiel als Erstem die Veränderung in der Zusammensetzung des Dschungels auf; eine unbekannte Flora gedieh um sie herum, der reinste botanische Garten, bevölkert von einer Vielzahl eigenartiger Insekten und anderer Tiere. Scharlachrote Pilze, Frösche, so grellbunt wie Fische in einem Aquarium, Baumfarn, dessen Bischofsstäbe sich aggressiv über ihren Köpfen entrollten … nichts erinnerte an Arten, die sie bislang kannten. Elaine hatte nachgedacht und teilte mit, woran sie sich erinnerte:
    »Es gibt so etwas auch in Französisch Guyana: ein weitgehend isolierter zylindrischer Felsen mit eigenem Ökosystem. So etwas, womit Darwin seine Theorie belegen konnte … Die natürliche Auslese hat zwar stattgefunden, aber eben abseits, wie auf einem Atoll. Manche Arten des Regenwalds haben sich hier auf ihre Weise fortentwickelt, ohne die Einflüsse, denen sie in der Ebene ausgesetzt gewesen wären.«
    Sie sollten sich eine Arche Noah nach jahrtausendelanger Fahrt ohne jeden Halt an Land vorstellen. Die Arten auf diesem Geisterschiff wären dann denen, die einst an Bord gingen, nur noch mehr oder weniger ähnlich; die einen hätten sich gewandelt und dem Leben dort angepasst, andere hätten nicht überlebt …
    »Großartig, schaut mal!« Mauro hob einen riesigen, mit hornförmigen Auswüchsen besetzten Käfer auf. »Der reinste Garten Eden!«
    »Ihr könnt den Scheiß in aller Ruhe anschauen, würde ich sagen«, meinte Petersen verächtlich. »Wir sind am Ziel.«
     
    In der Tat, der gesamte Stamm ließ sich am Rand des Buschs nieder, dort, wo das Plateau offen und unbewachsen war, an einer Seite von einer Kuppe aus Granit begrenzt, zur anderen von einem schwindelerregenden Abgrund. Anders als bisher auf ihrer Wanderung, errichteten die Indios ein nicht nur provisorisches Lager. Nachdem Trinkwasser besorgt und die übliche Ernte an Maden, Palmenherzen und anderem eingebracht war, setzten die Frauen in gewachsten Körben, die zur Herstellung des Bieres dienten, gestampften Maniok an. Ein Trupp junger Männer brach fröhlich zur Jagd auf; Brennholz wurde in Mengen herbeigeschafft … Alles wies darauf hin, dass diese Station auf dem Inselberg keine vorläufige war, sondern das Ziel ihrer Wanderung.
    »Wir werden doch hier nicht bleiben?« An Mauros Ton war zu erkennen, dass er genau das befürchtete.
    »Frag sie doch, wenn du willst …« Petersen nahm sich den Gürtel ab, in dem er sein Kokain transportierte.
    Elaine saß in ihrer Hängematte. Sie war völlig am Ende und wusste nur noch eines: Nichts, auch passives Zuwarten nicht, konnte mehr den Lauf der Dinge beeinflussen. Sie musste immer wieder an Detlefs toten Leib denken, wie er ihr in jener Nacht erschienen war, im Lichtschimmer, majestätisch. Sein Tod sickerte nach und nach in jenen Teil der Seele ein, wo das Leben einen Schmerz nach dem anderen registriert und allmählich lernt, dem eigenen Verlöschen entgegenzublicken. Sie hatte keine Angst mehr.
    Reglos dem Fels zugewandt, hatte der Schamane gewartet, dass seine Stammesgenossen ihm eine Hütte errichteten. Dann schlüpfte er für einige Minuten hinein, gerade genug, um das Zubehör seines Amtes zu verstauen. Jetzt hielt er erst den anderen eine nicht enden wollende Rede, um dann allein gen Gipfel aufzubrechen. Die Indios blickten ihm nach, solange er zu sehen war, dann wandten sich alle wieder ihrer jeweiligen Tätigkeit zu.
    »Sie bereiten ein Fest für seine Rückkehr vor …«, sagte Petersen.
    Seine Meinung – die sich als zutreffend erweisen sollte – blieb unkommentiert. Professora von Wogau lag ausgestreckt in der Hängematte und starrte ins Leere. Mauro begeisterte sich ohne Ende an den Tierchen, die er allenthalben auftrieb. Also schnupfte Herman eine Fingerspitze von dem weißen Pulver und legte sich seinerseits hin, um nachzudenken. Eine Alarmsirene schrillte in seinem Kopf und mahnte ihn,