Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wo Tiger zu Hause sind

Wo Tiger zu Hause sind

Titel: Wo Tiger zu Hause sind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Marie Blas de Roblès
Vom Netzwerk:
schnellstmöglich abzuhauen, weg von diesen unberechenbaren Wilden; doch selbst wenn es ihm gelingen sollte, nachts zu entkommen und genügend Vorsprung zu erringen, gingen seine Chancen, im Dschungel zu überleben, gegen null. Die Regenzeit stand kurz bevor; Tag für Tag würde es schwieriger, im Regenwald Nahrung zu finden. Sogar angenommen, es gelänge ihm, sich ohne Kompass zurechtzufinden, müsste er sich tage-, ja wochenlang durchschlagen, und seine Gliedmaßen taten ihm jetzt schon so weh, dass er hätte schreien mögen … Er war stinkwütend auf sich selbst, nahm sich vor allem übel, dass er der Hoffnung nachgegeben hatte wie die anderen; sie hätten sofort fliehen müssen, als die Indios auftauchten, statt darauf zu rechnen, dass diese Kannibalen sie zur Zivilisation zurückführten. Beim Gedanken an Detlef fiel ihm auch die unbenutzbar gemachte Waffe ein, und er ballte die Fäuste in ohnmächtiger Wut.
     
    Am höchsten Punkt des Berges angelangt, ließ sich der Schamane der Apapoçuvas im Schneidersitz auf einem flachen Felsen nieder und wartete. Nichts von alldem ringsum, weder die Quelle der Heiligen Steine – Ursprungsort, nur ihm allein bekannt, geheimer Schoß, in dem die Embryonen von allem heranreiften, das dereinst zum Leben gelangen würde – noch die Schönheit des Ausblicks konnten ihn ablenken. Die Seele des Qüyririche umflog ihn, ihr schwerer Flügelschlag erfüllte den Raum, doch weigerte sie sich beharrlich, zu ihm zu sprechen …
Ich habe dein Volk an dem Ort versammelt, den die Zeichen mir aufgegeben haben, ich habe mich der Frauen enthalten, des Fleisches vom Aguti und vom großen Ameisenbären; allnächtlich, seit du uns verlassen hast, habe ich deinem Leib Gesellschaft geleistet, habe weder an Gesängen gespart noch an Speichel … Qüyririche, Qüyririche Cherub! Warum entziehst du mir die Hilfe deiner Worte?
Er hatte gehorcht, doch der weißhäutige Gott blieb stumm! Das unsichtbare Gürteltier hatte den Umstand genutzt und war in seinen, des Schamanen, Bauch geschlüpft wie in einen unterirdischen Bau, und jetzt fühlte der Schamane sich krank, geschwächt. Das Tier zerfraß ihn von innen her, es ließ sein Blut gerinnen.
    Einst, in seiner Jugend, wäre er an demselben Übel einmal beinahe gestorben. Sein Vater hatte den Geist aufgegeben, und das unsichtbare Gürteltier hatte sich in den Eingeweiden des Sohnes festgebissen. Den Vater setzten die Männer an seinen gewohnten Platz in der Hütte, aufrecht, mit seinem Bogen und den Pfeilen, der Bierflasche und der Tukanflöte. Und dann bauten sie um ihn herum ein zweites Haus, eine enge Palisade aus jungen Ästen vom Kautschukbaum, mit einem kleinen Loch auf der Höhe des Bauchnabels. Dort hindurch schoben sie sein Blasrohr, bis es in den Bauch drang. Und er, Raypoty, war im Wald geblieben, ohne zu essen noch zu trinken, ohne den Mut zu finden, sich zu nähern … Tief in der dritten Nacht biss das unsichtbare Gürteltier ihm ins Herz, so fest, dass er meinte, sterben zu müssen. Da hatte er sich gefügt … Von der dichten Dunkelheit entsetzt, von den irrenden Seelen, die ihm in die Ohren atmeten, Verschonung erflehend, ging er zum Haus des Vaters. Er sah die eigene Hand nicht vor Augen und betrat das Haus der Vaters. Tastend fand er das Blasrohr und fühlte sich an ihm entlang, bis er den Nabel des Vaters berührte. Zugleich sagte er: »Vater, ich bin dein Sohn!«, und sein Herz klopfte sehr stark, wie nach einer Verfolgungsjagd, einem verletzten Jaguar hinterher, eine Feuerkugel rollte durch seinen Kopf, und das unsichtbare Gürteltier floh aus seinem Leib.
    So viel Zeit danach, wie ein Büschel Bananen braucht, um gelb zu werden, biss ihn die Surucucu-Schlange in den Knöchel, ohne ihn umzubringen – der Beweis, dass er jetzt selbst
pajé
war, Erbe der geheimnisvollen Macht seines Vaters, ein würdiger Nachfolger.
    Raypoty wusste, was er zu tun hatte: fasten, Stechapfel kauen und hier warten, auf diesem Felsen, dass die Feuerkugel erschien. Qüyririche würde wieder zu ihm sprechen, ihm sagen, was es zu tun galt, um endlich das Land-ohne-Schmerzen zu erreichen. Lieber wollte er sterben, als dem ganzen Stamm die Niederlage seines Lebens einzugestehen! Qüyririche, Quiriri-Cherub! Der Gesandte des Tupan, der Große Geier!
    Trotz all seiner Erfahrung als Schamane, trotz seines Vorrats an magischen Pfeilen verspürte er dieselbe Angst wie einst in seiner Jugend. Er fühlte sich mutlos, zutiefst mutlos …
     
    Sehr sanft

Weitere Kostenlose Bücher