Wo Tiger zu Hause sind
Trotzdem wollte sie einen Arzt aufsuchen, jedenfalls später, beim kleinsten verdächtigen Anzeichen.
Im Bademantel, die Haare in ein weißes Handtuch gewickelt, legte sie sich aufs Bett. Morgen sollte das Yemanjá-Fest stattfinden. Onkel Zé hatte ihr den Weg zum
Terreiro
genau erklärt, das war gar kein Problem. Mit ein bisschen Glück würde das Geld, das ihr Vater allmonatlich schickte, nächsten Montag oder Dienstag kommen. Sie hatte knapp noch genug, um sich bis dahin durchzuschlagen, und danach war alles geritzt: Ab in den Bus nach São Luís! Drei Tage, und sie wäre dort, vielleicht sogar noch schneller. Zu schreiben lohnte sich schon gar nicht mehr, sie wäre vor dem Brief dort.
Auf dem Nachttisch lagen noch die beiden Spritzen, die Thaï und sie am Vorabend der Verabredung mit Andreas benutzt hatten. Das verstärkte ihre Niedergeschlagenheit. Zugleich wusste sie mit jener Klarheit, wie sie für Pseudo-Lösungen typisch ist – solche, die ein Problem nur noch verschlimmern, statt es zu beheben –, dass eine kleine Linie Koks oder auch nur ein Joint ihr wohltun würde. Psychische Abhängigkeit …, dachte sie höhnisch lachend. Sie war nicht krank, verspürte keines der körperlichen Anzeichen des Entzugs; ihr fehlte nur auf einmal so sehr die Empfindung, obenauf zu sein, ihren Körper und Geist im Griff zu haben. Jedes Mal, wenn sie diesen Drang bisher verspürte, hatte sie ihm unverzüglich nachgegeben, wie der unschuldigen Lust auf eine Zigarette oder auf Schokolade. Schlimmstenfalls schaute sie sonst bei Paco vorbei, und alles war gut; heute aber waren die Dinge sehr viel schwieriger … Sie stand auf, um sämtliche Orte zu durchsuchen, an denen sie Drogen zu verstecken pflegte. Sie wusste zwar, dass nichts mehr da war, aber irgendetwas trieb sie dazu, den Mangel zu exorzieren, als müsste rein dank des Suchens ein Krümel Hasch oder ein bisschen
Maconha
auftauchen. Verzweifelt und mit der Nervosität, die bisweilen die Gewissheit begleitet, endlich den Schlüssel gefunden zu haben, nahm sie den Spiegel aus dem Rahmen, der sonst dazu diente, das Koks aufzuteilen. Nur noch ein paar winzige Stäubchen saßen in den Ecken, gerade genug, um es sich ins Zahnfleisch zu reiben und die Ungeduld zu steigern. Und auf einmal war die Notwendigkeit unabweisbar: Sie musste sich das Gewünschte besorgen, um jeden Preis. Sie mochte versuchen, sich zur Vernunft zu rufen – der Entzug hatte sie im Griff. Roetgen zu fragen, den einzigen ihrer Bekannten, der es sich leisten konnte, ihr Geld zu leihen, kam nicht in Frage. Paco um Kredit bitten? Noch weniger, er wusste nur zu gut, woran er mit seinen Kunden war. Moéma erwog schon die absurdesten Transaktionen, da tauchten Nelsons Ersparnisse vor ihrem inneren Auge auf … Ganz gewiss würde er ihr den Gefallen nicht verweigern. Egal wie, sie musste hier raus, sie musste auf andere Gedanken kommen.
Sie schlüpfte in eine Jeans, zog eine Bluse über, die sie weniger der Eleganz nach auswählte, sondern weil sie nicht durchsichtig war, dann wühlte sie im Durcheinander einer Schublade nach der kleinen Dose Tränengas, die mitzunehmen ihr Vater sie gezwungen hatte, steckte sie ein und verließ hastig das Haus.
Die Busfahrt zurück nach Pirambú dauerte mehr als eine Stunde. Vor Nelsons Hütte klatschte sie mehrmals in die Hände, ohne Antwort, dann ging sie hinein, um drinnen auf ihn zu warten. Die Seife und das Handtuch in der Hängematte, die zerrissenen Fotos, der von Furchen durchlaufende Sand, als hätte sich überall im Raum eine Boa gewunden, erschienen ihr aberwitzig, was ihre Fieberhaftigkeit jedoch nur steigerte. Die ersten fünf Minuten Warten waren unendlich lang; ihre Ungeduld erledigte den Rest. Von der Vorstellung, Nelson könne sie dabei überraschen, kaum behindert, buddelte sie an der Stelle, die er selbst ihr gezeigt hatte, und legte die Plastiktüte frei. Sie war überrascht, die Waffe zu finden, ließ sie jedoch an Ort und Stelle, und griff nur das Geldbündel; dann schob sie das Loch zu, glättete hastig den Sand und machte sich davon.
Sie würde ihm das Geld zurückgeben, sobald der Scheck ihres Vaters da war. Bis dahin gab es kaum eine Gefahr, dass Nelson die unfreiwillige Leihgabe bemerken würde. Denn das war es ja, nicht wahr, eine Leihgabe, kein Diebstahl. Ein Fall von höherer Gewalt. Man könnte fast sagen, er brauchte das Geld an sich gar nicht mehr, denn sie wollte ihm ja den Rollstuhl schenken.
Trotz all der Entschuldigungen, die
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