Wo Tiger zu Hause sind
das schlechte Gewissen ihr eingab, wurde Moéma erst ruhiger, als sie aus Pirambú hinaus war. Falls Nelson sie nicht belogen hatte, verfügte sie jetzt über einhundertfünfzigtausend Cruzeiros, eine Summe, die genügte, um ihr altes Leben in Würden zu beerdigen und mit dem Stoff ein für alle Mal aufzuhören. Nach dem Yemanjá-Fest würde sie nichts mehr anrühren, komme, was da wolle. Falls ihr Vater es verlangte, würde sie sogar eine Entziehungskur machen. Doch das dürfte nicht nötig sein, sie fühlte sich stark, Herrin ihrer Zukunft und ihres Willens. Sie würde es noch einmal extrem weit treiben mit dem Koks, so weit es ging, um zu zeigen, dass sie wirklich den Boden erreicht hatte. Um dann aufzuerstehen, frisch und neu, gereinigt von einer Sünde, die auf ewig in der Nacht ihrer Jugend zurückbleiben würde.
Auf dem Rückweg machte sie bei Paco Station und gab ihre Bestellung auf. Eine Stunde danach heilte eine erste Spritze wenigstens die schlimmsten Risse, die das Unbehagen ihr zufügte.
Als es dunkel wurde, hörte sie es an der Tür klopfen.
»
Carinha
, wir sind’s!« Thaïs’ Stimme. »Mach auf, wir wissen, dass du da bist …«
Moéma saß in der Falle. Stillhalten, sich tot stellen. Nur ein Wort, und es wäre vorbei, sie würde sie hereinlassen.
»Mach doch auf, bitte.« Roetgen klang so vernünftig. »Wir haben das Licht gesehen … Wir müssen uns aussprechen, wir alle drei, es ist doch idiotisch, wenn es so weitergeht …«
Das Licht … Ihr hätte klar sein müssen, dass sie sie am Ende bemerken würden. Diese beiden oder andere … Sie wollte aber nicht, sie wollte kein Wort mehr hören! Das war ihre Nacht, ihre einsame Nachtwache vor ihrer bevorstehenden Hochzeit mit dem Leben. Genügte es denen denn nicht, sie verraten, sie im Unrat der Böschung liegengelassen zu haben?
Thaïs ließ nicht locker: »Moéma, was ist los? Wir waren alle furchtbar stoned, das musst du doch verstehen … Ich weiß nicht, was du denkst, aber es ist falsch. Sei nicht dumm, mach auf, wir gehen was trinken auf der
Beira-Mar
…«
Da kam ein Wirbel auf in ihrem Kopf und saugte alles ein, an dem er vorüberkam. Thaïs, ihre Stimme, ihr Lächeln, ihr Körper … Sie war doch ihre Schwester, ihre Liebste, die einzige Freundin, die ihre Hoffnungen und Ängste zu teilen vermocht hatte. Warum nicht verzeihen, das neue Leben auf eine versöhnliche Geste gründen?
»Komm, mach schon auf«, bettelte Roetgen. »Wir haben uns Sorgen um dich gemacht …«
Der Idiot! Wenn er nicht dabei wäre, würde sie die Tür immerhin einen Spalt weit öffnen, einfach um in Thaïs’ Blick die Wahrheit zu lesen … Aber der Typ widerte sie an! Er hatte sie beide ausgenutzt, der Lüstling. Ihm das sagen. Ihm sagen, dass er und seinesgleichen allesamt Mistkerle sind, Egoisten, die nur ans Ficken denken, während die Welt ringsum zusammenbricht … Ja, aufmachen, ihm sagen, dass er abhauen soll, und Thaïs hereinbitten …
Sie atmete zwei-, dreimal tief durch, überprüfte im Spiegel, ob sie präsentabel war, und öffnete die Tür, um ihre Absicht umzusetzen. Niemand mehr. Diese Kretins hatten nicht länger warten wollen … Was soll’s, vielleicht besser so. Verreckt doch!, sagte sie laut und spürte, wie ihr die Tränen kamen, verreckt doch mit offenem Mund!
Am Morgen des Yemanjá-Fests strömten Tausende zum Strand der Zukunft, um die Göttin des Meeres zu feiern. Auf Lastern oder Karren kamen die
Terreiros
in großen Mengen, die Gläubigen folgten ihren geistlichen Führern. Einmal pro Jahr versammelten sich so die Anhänger von Umbanda und Candomblé in einer gemeinsamen Glut. Um zu ihrer Verabredung zu gelangen, musste Moéma gegen den Strom auf der
Beira-Mar
gehen. Buntscheckiges Volk drängte sich bereits auf den Bürgersteigen, ein wahrer Auszug der Kinder Israels – die meisten
faveleiros
– auf dem weiten Weg zur Feier.
Der
Terreiro
von Dadá Cotinha ähnelte einem Narrenschiff. Transvestiten, aufgeputzt wie zum Karneval, Musiker, die ihre Trommeln feste einspielten, Mulattinnen in hellblauem Kleid, Cachaça kartonweise, Rosen- und Nelkensträuße, Rufe, Tränen, Gefuchtel … ein Trubel wie bei einem Hochzeitsfest ließ die Bude wackeln. Als Prinz Roland verkleidet, Helm mit Helmbusch und rotes Cape, kommandierte Onkel Zé mit dröhnender Stimme das Beladen seines Lasters.
»Ah, da bist du ja, Prinzessin!« Er wirkte bei Moémas Anblick ausgesprochen erleichtert, wie jemand, der seine
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