Wo Tiger zu Hause sind
schlimmsten Befürchtungen ablegen darf. »Wie geht’s dir heute so? Ich hoffe, du hast gut geschlafen, das wird ein anstrengender Tag …«
Moéma hatte die ganze Nacht kein Auge zugemacht, sondern sich ganz den kläglichen Wundern des Kokains hingegeben. Sie trug eine Sonnenbrille, platzte aber vor einer fast schmerzhaft gespannten Energie.
»Komm, komm, dass ich dich den anderen vorstelle. Dadá selbst wird dich ankleiden.«
Sie schlüpften in ein kleines Zimmer, wo alte Frauen lachend ein paar junge Mädchen aufputzten. Dadá Cotinha, eine üppig-fröhliche Großmutter mit dem Auftreten des Kindermädchens im Hause eines Operettengenerals, lobte Zé für seine Wahl, dann verjagte sie ihn liebevoll. Die Zeit war knapp, die junge Frau musste fertiggemacht werden …
Moéma stand da, dem Gewirbel der Hände überantwortet, die um sie herumflogen, und ließ sich ohne jede Gegenwehr kostümieren. Man steckte sie in einen engen, fleischfarbenen Badeanzug, der sich ihren Formen vollkommen anschmiegte. An der passenden Stelle angenäht, markierten zwei Gummi-Nippel die Spitzen ihrer Brüste. Die alten Frauen bewunderten ihren großen Busen derart, dass Moéma errötete. Dann eine silbern laminierte Hose, die aussah wie glänzende Schuppen, und wenn sie die Beine schloss, bildeten zwei Dreiecke aus demselben Material auf Höhe der Knöchel eine große Flosse.
»Du hattest sicher schöne Haare«, warf Dadá Cotinha ihr vor, »was für eine Verschwendung, dass die jetzt so abgefressen sind … Wenn ich den Banausen in die Finger kriege, der dich so zugerichtet hat!«
»Ich wollte mal was anderes …« Moéma zog eine Grimasse, »aber ich bin nicht an den Richtigen geraten. Ist es denn so schlimm?«
»Mach dir nichts draus, Kind, das bekommen wir schon wieder hin …«
Und aus der Kiste, die ihre ganze unerschöpfliche Ausrüstung enthielt, zog Dadá eine Perücke aus sehr langem schwarzem Haar und befestigte sie an Moémas Kopf.
»Echte Haare sind das … Fatinhas Haare. Bis zu den Fersen gingen die ihr!, ein schönes Opfer hat sie da gegeben …«
Spangen, Mascara, Reispuder, Wangenrouge, Lippenstift – als alles bereit war und sie von ihren alten Feen geleitet im großen Saal erschien, löste Moéma ein Konzert von Zurufen und Trommelschall aus:
Yayá, Yémanja! Odó Iyá!
Saia do mar,
Minha sereia!
Saia do mar
E venha brincar na areia!
Schon sahen alle in ihr nur noch Yemanjá, die Sirene-mit-den-vollen-Brüsten, jene, die heute noch aus der Tiefe des Meeres emporsteigen würde. Dadá Cotinha musste persönlich dazwischengehen, sonst hätten die kecksten Verehrer Moéma angefasst. Auf ihren Wink gab Onkel Zé das Zeichen zum Aufbruch.
»Kommt Nelson gar nicht?«, fragte Moéma.
»Ich weiß auch nicht, was da los ist.« Onkel Zé wirkte verärgert. »Er müsste schon lange da sein … Wir können aber nicht mehr warten. Egal, er weiß, wo er uns findet.«
Er hat entdeckt, dass sein Geld weg ist! Moéma war erschrocken. Unmöglich: Er wäre doch gleich hergekommen, um es seinem Freund zu erzählen. Sie machte sich unnötige Sorgen …
»Los geht’s, Prinzessin«, sagte Zé und half ihr auf die Ladefläche, deren Plane er für den Anlass abmontiert hatte.
»Hast du gewusst, dass er eine Pistole hat?«, fragte Moéma, ohne sich etwas Böses dabei zu denken.
»Eine Pistole? Eine echte?«
»Ja. Ich kenn mich damit ja nicht aus, aber es sieht aus wie eine von der Polizei …«
»Woher weißt du das? Hat er es dir erzählt?«
Sie bereute schon, dass sie es erwähnt hatte. Ihr Leichtsinn führte sie auf gefährliches Terrain:
»Nein, er hat sie versteckt. Er weiß nicht, dass ich sie gesehen habe …«
»Darum kümmern wir uns später«, meinte Onkel Zé mit verschlossenem Gesicht und ging nach vorn zur Fahrerkabine.
Laster wie ihren gab es zu Hunderten; in allen Größen, allen Farben rumpelten sie in langen Schlangen über die Straßen heran. Hintendrauf übertönten die Samba-Orchester, zwischen unglaublich vielen Passagieren eingezwängt, den Motorenlärm. Männer wie Frauen räkelten sich im Rhythmus der Akkordeons und Marimbas; an die Aufbauten angeklammert, lachten und sangen die Leute, riefen einander zu: Yayá, Yemanjá! Sie segne euch! Sie erhöre eure Gebete! Moéma wusste schier nicht, wohin sie zuerst schauen sollte. Die Kraft dieser Menschen, ihre ansteckende Freude, aber auch ihre Schnoddrigkeit, ihr aus dem Elend geborener desillusionierter Zynismus, all das las sie
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