Wo Tiger zu Hause sind
vorzuziehen den christlichen, muslimischen und philosophischen Spinnereien des ersten, achten und achtzehnten Jahrhunderts unserer Zeitrechnung.«
Benjamin Constant, Brief vom 4 . Juni 1780 ,
Revue des deux Mondes
, 15 . April 1844 )
ES GEHT NICHT UM eine Leugnung Gottes oder einen Beweis seiner Existenz, sondern darum, an ihm zu verzweifeln. Das Unergründliche an seinem Platz lassen, sich ebenso wenig darum bekümmern wie um die Zahl der Milben, die sich von unseren abgestorbenen Hautschuppen nähren.
JEDE MODERNE , sobald sie eine schmerzhafte Metamorphose durchläuft und sich selbst befragt, sucht sich einen großen Bruder in den vorvergangenen Jahrhunderten und identifiziert sich mit ihm, das braucht sie einfach. Jenes Goldene Zeitalter wird unvermittelt Vorläufer des unseren oder gar sein Begründer, je nach dem rhetorischen Geschick dessen, der diese Art Nachweis bemüht. Als müsste man die Gründe einer Krankheit oder eines Glücksgefühls unbedingt kennen, um sie heilen oder es begreifen zu können. Diese Rückkehr zu den Ursprüngen des Leidens ist symptomatisch für unsere Gesellschaften, symptomatisch auch für Kircher. Doch sie erklärt nichts. Wissen, wann genau alles begonnen hat, schlecht zu laufen: Das fasziniert nur den, dem es schlechtgeht.
KIRCHER war wohl mein Goldenes Vlies, meine eigene Suche nach den Ursprüngen.
»DIES IST ETWAS , das ich Ihnen zwar demonstrieren kann«, so räumt Alvaro de Rújula ein, »doch erklären kann ich es Ihnen nicht. Es gehört zu jenen tiefgründigen Dingen, die man vom Bauch her einfach nicht begreift.« Niemand, nicht einmal mehr Physiker selbst können sich das Universum anders erklären als durch Berechnungen, will sagen dank eines Kunstgriffs, mit dem man alles machen kann, was man nur will, außer zu
sehen
, also die Realität mit den Sinnen oder dem Intellekt zu begreifen. Bis hin zur Relativitätstheorie konnte jeder sich die Wirklichkeit vorstellen, sie sich mehr oder weniger transparent vor Augen führen. Die Weltsicht eines Élisée Reclus oder eines Aristoteles differierte kaum von der eines Matrosen oder Bauern ihrer Zeit. Sie mochte »falsch« sein, besaß aber den Vorzug, dass sie präzise war, ein Bild in den Köpfen entstehen ließ. Unser Wissen vom Universum kommt der »Wahrheit« unzweifelhaft näher, doch müssen wir uns damit begnügen, dem Wort jener wenigen Auserwählten zu glauben, welche mit den Gleichungen, auf denen diese Gewissheit beruht, zu hantieren vermögen. Zur Beruhigung steht unserem Geist nur eine kleine Handvoll Metaphern zur Verfügung: Puerile Geschichten von einem Urknall, von während ihres Aufenthaltes im All jünger oder größer gewordenen Kosmonauten; durchgedrehte Fahrstühle, Angelruten, die kürzer werden, wenn man sie gen Norden richtet, Fausthiebe, die ihr Ziel nie erreichen, Sterne, denen nicht einmal ihr eigenes Licht entkommt – und von denen man einfach gar nichts weiß, außer dass sie so gut wie alles enthalten könnten, inbegriffen Marcel Prousts gesammelte Werke … Unsere Begriffe von der Welt beschränken sich auf jene wenigen Fabeln, mit deren Hilfe die Wissenschaftler uns von Zeit zu Zeit wie Kindern erklären wollen, dass die Ergebnisse ihrer Arbeit uns über den Verstand gehen. Kircher, Descartes oder Pascal waren noch imstande, mit den Wissenschaften ihrer Zeit umzugehen, deren Hypothesen zu widerlegen und neue zu formulieren. Wer hingegen kann sich rühmen, heutige Wissenschaft genügend zu begreifen, um sich das Universum, das sie beschreiben, selbst vorzustellen? Was soll man von einer Menschheit denken, die mangels Anhaltspunkten, mangels Angelpunkten keinen Blick mehr auf die Welt haben kann, in der sie lebt, außer der Einsicht, dass sie aufs Verderben zuläuft? Mangels Realität … Die Art und Weise, in der die Welt sich mittlerweile unseren Versuchen verweigert, sie uns vorzustellen, all die Listen, mit denen sie sich uns entzieht – sind das nicht Symptome dafür, dass wir sie bereits verloren haben? Die Welt aus dem Blick verlieren, heißt das nicht bereits, sich mit ihrem Verschwinden abzufinden?
WIR HABEN DIE WELT , die wir verdienen, oder zumindest jene, die unsere Kosmologie verdient. Was sollten wir uns noch von einem Universum erhoffen, das von schwarzen Löchern, Antimaterie, Katastrophen nur so wimmelt?
ALS FERNSEHER ZU DIENEN , als Rechenmaschine und Terminkalender, als Warenkatalog, Alarmanlage, Telefon oder als Simulator von
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