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Wo Tiger zu Hause sind

Wo Tiger zu Hause sind

Titel: Wo Tiger zu Hause sind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Marie Blas de Roblès
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ausnahmslos! Ich weiß nicht, wie ich Gott genügend für diese erhabene Erkenntnis danken soll, zumal noch so spät in meinem Leben …«
    »Aber wie soll denn etwas zugleich sterblich & unsterblich sein, körperhaft & immateriell?«, wagte ich einzuwenden, jäh erschrocken ob dieser Mischlehre. »Liegt denn darin kein Widerspruch?«
    »Ein scheinbarer nur!« Die Augen meines Meisters funkelten begeistert. »Der Tod ist nicht weniger mysteriös denn die Geburt, gehorcht aber denselben Prinzipien. Von zwei Männern, im selben Ausmaße von der Pest betroffen, stirbt einer, der andere jedoch nicht – warum?«
    »Da es so der Wille Gottes ist.«
    »Freilich. Damit aber behauptest du, ein und dieselbe physikalische Ursache könne verschiedene Wirkungen zeitigen, je nach den obwaltenden Umständen. Doch wenn die Pest den einen Mann nicht umzubringen vermag, so hat sie folglich auch den anderen nicht getötet! Was also ist Sterben anderes, Caspar, als seiner Seele beraubt werden, und zwar einzig durch den Willen Gottes? Denn weder Pest noch Cholera vermögen einen Mann zu töten, dessen Leben zu bewahren Gott der Herr beschlossen hat; & nichts vermag ihn zu retten, den er aus unserer Welt hinieden entfernen will. Das Werkzeug Gottes in diesem Geschehen, dasjenige, auf welches und durch welches er wirkt, ist durchaus nicht die Krankheit, sondern die Seele, jenes Bruchstück des universellen Samens, das er uns eingepflanzt hat. Wir sind ja nun einmal keine immateriellen Engel, das weißt du, folglich muss die Seele zwangsläufig eine Form & Substanz haben, um in uns zu existieren, ebenso wie in der Erde und im Metall, von denen ich zuvor sprach; auch muss sie an einem Orte unseres Körpers vorhanden sein, leibhaftig, nach dem Vorbilde eines Papageien oder Eichhörnchens in seinem Käfige … Aristoteles sagt, dieser Ort sei das Herz, andere schlagen die Leber oder die Milz vor, doch ganz wie auch Monsieur Decartes meine ich, es könne nur der Kopf sein, jene Akropolis des Leibes, & genauer die im Hinterkopf gelegene Zirbeldrüse. Erinnere dich einmal an Pietro della Valle: Ist dir nie jenes merkwürdige Ding aufgefallen, das er an seinem Finger trug? Das war die Zirbeldrüse seiner Frau Sitti Maani! Er hatte sie in einen Goldring fassen lassen und trug sie sein restliches Leben lang bei sich, nahm sie gar ins Grab mit … Das mag freilich tadelnswürdig sein, in der Hinsicht, als es eitel ist, sich an das Skelett einer ihres Samens beraubten Seele zu klammern, doch zeugt es von einer zutreffenden Sicht der Natur & Funktion dieses winzigen Teiles unseres Gehirns. Sterblich & materiell ist diese Hülle, welche unsere Seele beherbergt & ihr gestattet, auf unseren Körper einzuwirken; unsterblich & immateriell ist unsere Seele selbst, jene Keimkraft, jener Flügelhauch, der in uns ist wie eine Streifung durch die Engel … sagt man nicht, seine Seele ›aushauchen‹? Stellten die Ägypter & Griechen sie nicht als Vogel dar, der dem Munde der Sterbenden entweicht? Ich sage es dir, Caspar: Es gibt etwas in dieser Drüse, das sich nach dem Tode nicht mehr darin befindet. Zwar vermögen wir nichts über die grundlegende Natur dieses Etwas auszusagen, doch werden wir zumindest annehmen dürfen, dass es eine Masse besitzt, so klein sie auch sein mag, & dass diese folglich messbar sei …«
    »Die Seele ausmessen?«, rief ich bestürzt.
    »Oder genauer: Sie wiegen, Caspar! Vergiss nicht, Christus wird nichts anderes tun, wenn er dereinst unsere Sünden auf die Waagschale legt … Ich für meinen Teil halte es für ausgemacht, dass unsere Seele wägbar ist, denn sie wohnt in unserem Körper & ist folglich Teil einer Welt, in der alles den von Gott geschaffenen physikalischen Gesetzen unterliegt. Nicht wegen der Vergleichbarkeit mit dem Gewicht unserer Sünden, sondern wegen der Materie, die es nun einmal braucht, um einen menschlichen Körper zu bewohnen … Und genau das will ich experimentell nachweisen, mit deiner Hilfe … Ich werde bald sterben, Caspar, alles deutet von Tag zu Tag klarer darauf hin. Wenn der Augenblick also gekommen sein wird, so sorge dafür, dass ein … eine …«
    Hier hielt mein Meister einen Moment inne, wie um seine Gedanken zu ordnen. Die Angst jedoch, die ich tief in seinen immer noch starr auf mich gerichteten Augen erblicken konnte, ließ mich vor Schrecken versteinern.
    »Mein Kopf!«, schrie er unvermittelt und versuchte, die Hände zur Stirn zu führen.
    Die Bewegung erstarrte

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