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Wo Tiger zu Hause sind

Wo Tiger zu Hause sind

Titel: Wo Tiger zu Hause sind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Marie Blas de Roblès
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keine Viertelstunde vergangen, da verabreichte ich ihm die Letzte Ölung, so trauervoll, ja verzweifelt, wie man es sich denken kann. Pater Ramón indes gab sich nie geschlagen, und trotz seiner eigenen ungünstigen Prognose nahm er aus Kirchers Arm gut eineinhalb Pinten Blut ab, um sein Gehirn, wenn irgend möglich, von üblen Säften zu befreien. Ich selbst legte Athanasius ein kleines Kruzifix von Elfenbein in die Hände & begann, vom Arzt begleitet, Gott anzurufen, während die Gebete der Patres und Novizen das gesamte Collegium erfüllten.
    Frühmorgens wurde das Röcheln meines Meisters seltener, legte sich dann ganz, während er die Augen schloss; seine Finger entspannten sich, & ich sah, wie ihnen das Kruzifix entglitt. Ich brach in Schluchzen aus, überzeugt, soeben seinen letzten Seufzer mitbekommen zu haben; & bei Gott, wäre es nur so gewesen … doch Pater Ramón beugte sich allsogleich über meinen Meister & holte mich rasch aus der Verzweiflung, in der ich versinken wollte: Kircher war eingeschlafen, sein Herzschlag, obgleich schwach & undeutlich, wie bei Greisen üblich, hatte sich beruhigt, was aller Wahrscheinlichkeit entgegen eine Hoffnung auf Wiederherstellung erlaubte!
    Da Gott der Herr seinem Diener die schlimmste denkbare Prüfung auferlegt hatte, starb Kircher diesmal also nicht, kehrte jedoch auch nicht zum Leben zurück. Ουκ ελαβον πολιν, so sagt Aelius Herodianus zu Recht, αλλα γαρ ελπις εφε κακα. [37] Als er mich anblickte, aus seinem Schlafe auftauchend, musste ich mit Entsetzen feststellen, dass es ihm weiterhin verwehrt war, zu sprechen oder auch nur sich zu bewegen. Gelähmt!, mein Meister war gelähmt …
    Nichts in der folgenden Woche war so schrecklich wie meine Ohnmacht angesichts dieses bald ängstlichen, bald wütenden oder flehentlichen Blickes; mir war, als richte Kircher all seinen Willen darauf, den schaurigen Fesseln des Schweigens & der Reglosigkeit zu entrinnen. Stundenlang wimmerte er wie ein Säugling, doch was er auch tat, solange er sich auch mühte, er brachte nichts anderes heraus als die Worte »Hurenbalg!« Sich selbst zu hören, wie derart Schmähliches aus seinem eigenen Munde kam, wenn auch wider Willen, ließ ihm die Tränen über die Wangen laufen …
    Mir aber war aufgefallen, dass seine Lider seinem Willen noch zu gehorchen schienen, & mir kam die Eingebung, diesen Umstand zu nutzen, um mich mit meinem Meister zu unterreden: Ein Lidschlag für »ja«, zwei für »nein«, und so viele wie nötig, um einen Buchstaben des Alphabets zu bezeichnen. Trotz der Umständlichkeit & Länge dieses Verfahrens konnte ich feststellen, dass mein Meister geistig vollkommen klar war, was sein Unglück nur noch tragischer erscheinen ließ. Das erste Wort, das er mir auf diese Weise mitteilte, war »Schüttelmaschine«. Er schien dieses Apparat benutzen zu wollen, & ich ließ ihn daraufsetzen. So zwang er seinen reglosen Körper, sich zu bewegen, zum Entsetzen der Chirurgen, die allerlei schreckliche Folgen mutmaßten. Da aber Pater Ramón und auch Doktor Gibbs mir versicherten, diese Übung berge zwar kaum Chancen auf Erfolg, jedoch auch keinerlei Risiken, hielt ich an meiner Entscheidung fest, Athanasius’ Befehlen Folge zu leisten. Und wohl hatte ich daran getan, denn nur drei Wochen nach Beginn dieser Morgengymnastik bescherte mein Meister mir eine der größten Freuden, die mir zu erleben vergönnt war: Eines Nachmittags, während ich ihm vorlas, ohne auf das »Hurenbalg!« zu achten, das ihm nach wie vor bisweilen entschlüpfte, da sprach Kircher klar und deutlich meinen Namen aus! Er wiederholte ihn sogar mehrfach, immer lauter und in verschiedenen Tonlagen, wie ein Seemann, der nach langer & gefahrvoller Fahrt Land entdeckt. Und als hätte diese Formel den Zauber gebrochen, der seine Lippen versiegelt hielt, streckte er die Hand nach mir aus:
    »Ich … dachte«, sagte er mit bebender Stimme & immer wieder stockend, »ich … dachte an eine … neue Art, Fe… Festungen einzunehmen! Man muss sie mit einer ebenso ho… hohen Mauer umga… umgeben, so hoch wie ihr höchstes Gebäude, sodann drohen, man werde diese mit Aw… Wasser füllen …«
    Allsofort mahnte ich ihn zu schweigen, um sich nicht zu überanstrengen, doch zugleich bewunderte ich die Macht eines Genies, das noch inmitten der schrecklichsten aller Krankheiten weiter gewirkt hatte.
    Dies war am 1 . September des Jahres 1679 , & fortan besserte sich

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