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Wo Tiger zu Hause sind

Wo Tiger zu Hause sind

Titel: Wo Tiger zu Hause sind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Marie Blas de Roblès
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Vater:
    »Bitte, junge Frau. Ich habe auch noch etwas anderes zu tun …«
    Traumverloren verspürte Moéma einen leichten Schwindel, wie sie jetzt vorm Schalter stand.
    »Geht es Ihnen nicht gut? Ist Ihnen übel?«
    »Nein, nein … entschuldigen Sie bitte …« Sie versuchte zu lächeln, tauchte aus ihren Phantasien auf. »Ich möchte Geld abheben.«
     
    Als sie aus der Bank trat, rief eine bekannte Stimme nach ihr.
    »Na,
tudo bem
?«, fragte Roetgen, als er sie erreichte.
    »Tudo bom …«
    »Man sieht dich ja gar nicht mehr … hast du beschlossen, meine Kurse zu sabotieren?«
    »Nein, nein, absolut nicht. Und wenn ich einen Dozenten sabotieren würde, dann ganz sicher nicht Sie.«
    »Also, was ist los?«
    »Oh, nichts weiter, ich hab privat ein paar Probleme, aber keine großen. Außerdem ist das Jahr doch fast herum, es dürfte sowieso kaum mehr jemand da sein …«
    »Das stimmt allerdings«, lachte Roetgen. »Aber das ist kein Grund dafür, dass meine beste Studentin mich im Stich lässt …« Es störte Roetgen, dass er die Augen der jungen Frau nicht sah, und er nahm ihr die Sonnenbrille ab: »Du weißt, es ist unhöflich, die aufzulassen, wenn man mit jemandem spricht, schon gar mit einem ›Dozenten‹ …«
    Er hatte das scherzhaft gesagt, um sie ein wenig zu necken, und so überraschte es ihn, dass sie zurückschrak. Kurz war ihm, als hätte er sie bloßgestellt, so sehr schien sie aus der Fassung. Ihre großen blauen Augen wirkten noch seltsamer als sonst; entsetzt starrten sie ins Leere, wie ein Nachtvogel, der jäh dem vollen Tageslicht ausgesetzt wird.
    »Was machen Sie?«, fragte sie mit harter Stimme. »Wir haben nicht miteinander geschlafen, soweit ich mich erinnere.«
    Roetgen spürte, wie er bis zu den Haarwurzeln errötete.
    »Entschuldige bitte«, sagte er linkisch. »Ich weiß nicht, was in mich gefahren ist. Trotzdem schade, so hübsche Augen zu verstecken.«
    »Ah, diese Franzosen … Sind doch alle gleich!« Moéma lächelte angesichts seiner Verwirrung.
    »Denk das nicht, sonst gibt es böse Überraschungen!« Dann warf er einen Blick auf die Wanduhr der Bankfiliale: »Oha, ich muss los, sonst komme ich zu spät. Übrigens, heute Abend ist ein Fest im deutschen Kulturhaus, hast du nicht Lust, da hinzukommen? Dann können wir ein bisschen weiterplaudern …«
    »So organisierte Sachen scheißen mich an. Lauter Reden und erbauliches Getue.«
    »Das heute wird anders. Du kennst Andreas nicht, der bringt wirklich was in Bewegung. Aber wenn die Studenten nicht mitmachen, hat es keinen Zweck.«
    »Ich schau mal.«
    »Gut. Dann also hoffentlich bis heute Abend …«
    Roetgen war, dem brasilianischen Sprachgebrauch gemäß, ein
professor visitante
, also im Rahmen eines Austauschs mit einer ausländischen Partneruniversität auf Zeit angestellt. Direkt nach seinem Diplom – er war kaum älter als seine Studenten – war der Spezialist für die Ethnologie des Nordeste mitten im Semester nach Fortaleza gekommen und hielt eine Reihe von Kursen zur »Methodik der observierenden Feldforschung im ruralen Milieu«. Er war ein eher scheuer, verschlossener Typ und hatte sich mit Andreas Haekner angefreundet, dem Programmleiter des Hauses der deutschen Kultur, der Casa de Cultura Alemã. Man sah die beiden immer miteinander, und das Gerücht sagte ihnen bereits verborgene Gefühle füreinander nach. Moéma lachte mit allen anderen wegen der Unterstellungen, die machmal laut wurden, wenn Roetgen vorbeikam, ohne dass sie bei ihm ein Anzeichen für homosexuelle Neigungen erkannt hätte. Er gehörte nicht
zur Familie
, wie sie sagte, und falls sie sich ausnahmsweise einmal täuschte, wäre es wirklich schade für die Brasilianerinnen gewesen.
     
    Als sie am Meeresufer aus dem Bus stieg, direkt an der Querstraße, in der Thaïs wohnte, hielt Moéma kurz inne. Durch die dunklen Gläser gesehen, wirkte der Ozean wie ein See aus flüssigem Gold, gesäumt von Kokospalmen aus Leder und Weißblech.
    »Man müsste alle Leute zwingen, Sonnenbrillen zu tragen!«, sagte sie laut, während sie mit der Hand den Schnurvorhang beiseiteschob, hinter dem gleich Thaïs’ Wohnzimmer lag. »Das würde ihnen vielleicht zu ein bisschen mehr Phantasie verhelfen …«
    Auf die Matratze und allerlei Klissen gebettet, applaudierten Virgilio, Pablo und Thaïs ihrer Bemerkung.
    Als sie sich zu ihnen setzte, begegnete sie Thaïs’ stumm fragendem Blick und zwinkerte ihr zu: Ja, sie hatte das

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