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Wo Tiger zu Hause sind

Wo Tiger zu Hause sind

Titel: Wo Tiger zu Hause sind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Marie Blas de Roblès
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versprechen, damit aufzuhören und ihm stattdessen die Medikamente zu geben, die ich mitgebracht habe, ja? Zwei von jedem, morgens und abends. Einverstanden?«
    »Versprochen. Keine Sorge.«
    Eine dünne Wand aus geflochtenen Palmblättern trennte die Küche vom Rest der Hütte. Roetgen sah noch kurz die winzigen Bänke ums Herdfeuer – das durch einen Kreis aus Kieseln im Sand umgrenzt wurde –, zwei, drei rußgeschwärzte Krüge, von der Decke baumelnde Streifen getrockneten Fischs und wiederum direkt auf dem Boden ein kleines Regal, fast leer, mit einem Ölkanister und ein paar Weißblechdosen.
    Der Wohnraum war ganz ausgefüllt von einem Durcheinander aus dünnen Matratzen und an den Ästen, aus denen das Gerüst der Hütte bestand, festgemachten Hängematten. An eine davon trat João vorsichtig heran und schaute hinein.
    »Er schläft. Das tut ihm gut.«
    Ein rotznasiges, ein- oder zweijähriges Kleinkind mit nacktem, abgemagertem Leib lag auf dem Rücken. Sein linker Arm endete am Ellbogen in einer feucht suppenden Bandage.
    »Du musst das wechseln, João, das ist gefährlich.«
    »Ich weiß. Maria ist waschen gegangen, sie bringt saubere Tücher.«
    »Was ist ihm passiert?«, fragte Roetgen leise.
    »Ein Schwein.« João stieß die Hängematte sacht an.
    »Alle Kinder spielen im Müll«, erklärte Moéma, »auch die Kleinsten. Ein Schwein hat ihm den Unterarm abgebissen. Der Hunger macht sie ganz wild, das passiert nicht zum ersten Mal.«
    Würgreiz, ein Knoten in der Kehle, wie wenn die Zunge auf einmal meldet, dass das eben geschluckte Stück Fleisch faulig war.
    »Das ist ja grauenhaft«, sagte Roetgen auf Französisch. »Und das Schwein haben sie das nicht … ich meine, was haben sie mit dem gemacht?«
    »Was würdest du an ihrer Stelle machen!?«, fragte sie streng. »Denk mal ein bisschen nach, bevor du was sagst. Glaubst du wirklich, die können sich Sentimentalitäten leisten? Fressen oder gefressen werden, das ist die einzige Alternative.«
     
    Kurz darauf gingen sie zu ihrer Hütte zurück, um sich umzuziehen. Roetgen hatte sich in einer vorwurfsvollen Stummheit verkrochen; finster starrte er auf den Ozean ganz am Ende der Straße und überließ sich seiner Betrübnis.
    »Entschuldige bitte«, sagte Moéma auf einmal, »das war ungerecht vorhin, aber es gibt eben Sachen, da werde ich wütend. Das verstehst du doch, oder?«
    »Was soll ich verstehen?«, murmelte Roetgen, der sich immer noch seiner dummen Reaktion schämte.
    »Komm, guck nicht so … Du weißt genau, wovon ich rede. Ich hab es nicht persönlich gemeint. Aber dass es so was gibt, und kein Mensch sagt etwas dagegen, und die Erde bleibt nicht stehen … das macht mich einfach wahnsinnig wütend. Und ich kann nicht anders, ich nehme es João übel, dass er alles, was ihm passiert, so fatalistisch hinnimmt. Das ist idiotisch.«
    »Er hat keine Wahl, aber du hast recht. Ganz allein kann man nichts ausrichten. Das ist eine Binsenweisheit, aber kein Mensch möchte sie beherzigen; offenbar finden alle, diese Tatsache ist Schnee von gestern. Dasselbe gilt für die Ideen des Klassenkampfs, des Widerstands, der Gewerkschaftsorganisation … Sie haben das Kind mit dem dreckigen Bad des Sowjetkommunismus ausgeschüttet. Das musste vielleicht sein, um auf besseren Grundlagen noch mal von vorn zu beginnen, aber erst mal stinkt das … es stinkt gewaltig!«
    Sie waren vor der Hütte angelangt, und Moéma forderte ihn auf einzutreten, indem sie ihm die Hand auf die Schulter legte. Sie verstärkte den Druck ihrer Finger so lange, bis Roetgen sie ansah und erkannte, dass die Geste tatsächlich als Einladung gedacht war.
    »Wir müssen noch einmal darüber reden. Aber jetzt gehen wir erst am Strand eine Caipirinha trinken. Das hilft beim Nachdenken, oder?«
    Mit einem Schwung des Kopfes schleuderte sie ihr langes Haar zur Seite und wühlte in ihrem Gepäck.
    »So«, sie zog einen Badeanzug heraus, »besser, du drehst dich jetzt um, das ist kein Anblick für einen Professor …«
    »Da wäre ich mir gar nicht so sicher«, scherzte Roetgen, »aber wenn das so ist, dann drehst du dich auch weg, und wir ziehen uns beide um, ja?«
    »Okay.«
    Einander die Rücken zuwendend, zogen sie sich aus. Roetgen war weniger selbstsicher, als er getan hatte, und er beeilte sich – wie er selbst amüsiert feststellte –, als hätte er Angst, überrascht zu werden. Aber als er sich ausgezogen hatte, hielt er inne und verlängerte willentlich die erotisierende

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